7.2 Quo vadis, Demokratie: Revolution oder Evolution?

Frage 2: Welche Auswirkungen haben Phänomene der Massenmobilisierung über das Internet auf die Politik und den Politikprozess bzw. wie sind die politischen Auswirkungen zu bewerten?

Diese letzte Forschungsfrage bezieht sich auf die Auswirkungen von Internet-Tsunamis auf Politik und Politikprozesse bzw. den mittel- bis langfristigen Folgen für die Demokratie. Es konnte evaluiert werden, dass politische Massen durch die gezielte und strategische Platzierung von Themen durch Interessengruppen mobiliisert werden können. Durch Mechanismen, die dem Campaigning entlehnt werden, kann die Entwicklung von Internet-Tsunamis gefördert werden. Dennoch sind diese prospektiv nicht planbar, der Zufall spielt eine große Rolle. Oftmals werden Ereignisse erst im Nachgang im Rahmen von Kampagnenstrukturen instrumentalisiert. Selbige können ebenfalls erst retrospektiv nachgewiesen werden.

Internet-Tsunamis im Politikprozess

Aus den geführten Interviews (Kapitel 2) und untersuchten Fallstudien (Kapitel 3), wie auch den Politikfolgenabschätzungen (Kapitel 6) geht hervor, dass Internet-Tsunamis direkt auf den Politikprozess wirken können. Insbesondere beim Setzen der öffentlichen und politischen Agenda machen Internet-Tsunamis einen neue Qualität aus. Zum einen ermöglichen politische Massen, bei ensprechender Größe und Dauer von Protesten, auf eine Problemstellungen aufmerksam zu machen. Zum anderen können es Internet-Tsunamis schaffen, den Eindruck zu vermitteln, die nationale Stimmungslage widerzugeben. In beiden Fällen können politische Entscheidungsträger unter Druck gebracht werden, sich des proklamierten Themas anzunehmen.

Internet-Tsunamis können das Kräfteverhätnis im Hier und Jetzt verändern, in dem sie die Deutungshoheit über einen Sachverhalt bzw. ein Thema herstellen. Die Folgen für die Politik sind unterschiedlicher Art und lassen sich wie folgt beschreiben:

  1. Politische Entscheidungen werden nicht mehr einfach nur hingenommen, unabhängig davon, ob sie demokratisch legitimiert sind. Es kann davon ausgegangen werden, dass vor und nach politischen Entscheidungen Gruppen von Bürgern ihre jeweilige Positionen lautstark vertreten. Darauf müssen sich Entscheidungträger in Parlament und Verwaltung einstellen.
  2. Die politische Beteiligungskultur befindet sich in einem Wandel. In Zukunft muss vermehrt mit Protesten on- und offline gerechnet werden. Die Gesellschaft verändert sich zu einer agilen, themenbezogenen Protest- und Bewegungsgesellschaft.
  3. Akteure und Akteursgruppen ohne politische Lobby haben durch das Internet und die damit gesunkenen Kosten für Produktion und Verbreitung von medialen Inhalten die Möglichkeit bekommen, die öffentliche und politische Agenda im Selbstauftrag mitzubestimmen. Allerdings nutzen auch die ressourcenstarken Lobbys ähnliche Instrumente und Mechanismen.
  4. Es entstehen im Internet neue Machtzentren. In der Vertikalen der Internet-Infrastruktur entstehen Kontrollpunkte bei Providern und Serviceanbietern, die an diesen das Wissen über einzelne Nutzer und Nutzergruppen in Echtzeit abschöpfen können. Mit diesem Wissen kann im geheimen Einfluss auf gesellschaftliche und damit auch politische Prozesse genommen werden.[1]

Internet-Tsunamis wirken schon jetzt auf den Politikprozess ein. Eine gravierendere Veränderung ist allerdings zu erwarten, wenn man einen weiteren Zeithorizont betrachtet. Die gerade entstehende politische Beteiligungskultur kann Erneuerungsimpulse für die Demokratie setzen, aber auch gesellschaftliche Konflikte hervorrufen.

Die neue politische Beteilgungskultur

Eine vordergründig paradoxe Entwicklung ist zu beobachten. Auf der einen Seite weist der Trend in Richtung Protest- und Bewegungsgesellschaft. In dessen Rahmen nutzen einzelne Bürger, Bürgerinitiativen oder Interessensverbände Internettechnologien zur politischen Mobilisierung. Ziel ist es, die öffentliche, wie auch die politische Agenda mitzubestimmen.
Auf der der anderen Seite erfahren die traditionellen politischen Beteiligungsformen (Wahlen oder Parteienmitgliedschaften) einen Rückgang. Dieser Trend ist sowohl in proportionalen, als auch absoluten Zahlen zu beobachten. Den Bürgerinnen und Bürgern dies als „Desinteresse“ am politischen Geschehen auszulegen wäre jedoch ein Fehler. Denn die neue Protest- und Beteiligungskultur zeigt, die Bürgerinnen und Bürger wollen mitreden und sich auch aktiv beteiligen. Allerdings suchen sie hierfür neue Organisationsformen.

Gewohnte Konzepte und Denkrichtungen liefern hierfür teilweise keine ausreichenden Antworten mehr. Zum Beispiel scheint die politische Verortung zwischen Rechts, Mitte und Links an Erklärungskraft zu verlieren. Möglicherweise ist eine Unterscheidung in Materialisten und Postmaterialisten zukünftig aussagekräftiger. Materialistische Wertevorstellungen beziehen sich primär eher auf Attribute wie Besitz, Einkommen und Sicherheit, wohingegen postmatrialistische Attribute stärker auf ein selbstbestimmtes Leben, persönliche Freiheit und die Möglichkeit der Selbstverwirklichung abzielen. Möglicherweise erkären sich hier auch die Veränderungen im Parteienengagement. So zeigen die Grünen wie auch insbesondere die Piraten starke Anzeichen einer postmaterialistischen Werteverortung. In diesem Zusammenhang ist es interessant zu beobachten, welchen Entwicklungs- und Transformationspfad bestehende Institutionen, insbesondere eben Parteien, nehmen. Werden Parallelwelten oder hybride Organisationsformen kreiert? Welche Entwicklung beschreitet die Piratenpartei, Vorreiter oder Exot? Denkbar ist auch ein Verschwimmen der Trennlinie zwischen Akteuren auf der politischen Bühne und dem Publikum. Folgt auf den Bürgerjournalisten der Bürgerpolitiker?

Temporäre und liquide Organisationsformen

Gesellschaftliche Denk- und Verhaltensmuster wurden in den letzten 20 Jahren maßgeblich durch das Internet mitgeprägt. Als permanente Netzwerkinfrastruktur verbindet das Internet viele Millionen Menschen in Echtzeit miteinander. Diese Verbindungen können für politische Meinungsbildung nutzbar gemacht werden. Im Vor-Internet-Zeitalter musste man, um ein politisches Anliegen artikulieren und umsetzen zu können, ein Netzwerk aufbauen bzw. eine Organisationen gründen (in der Regel eine Partei). Soziale Verbindungen waren auf Dauer ausgelegt, denn es galt zuerst eine gemeinsame Basis und Ausrichtung (Programmatik) zu bestimmen. Heute steht jedem politischen Anliegen der Zugang zu einem weltweiten Kommunikations- und Distributionsnetzwerk zur Verfügung. Verbündete als Multiplikatoren spielen heute eine ebenso wichtige Rolle wie damals. Aber die gemeinsame Ausrichtung und die damit einhergehende Dauerhaftigkeit sind von geringerer Bedeutung. Organisationsformen werden in zunehmendem Maße fluide und temporär.

Datenflut und Themensprünge

Das Internet ermöglicht es, politische Anliegen schnell (in Echtzeit), kostengünstig und breitenwirksam in Umlauf zu bringen. Politische Protestbewegungen lassen sich mittels einfach zu bedienender Online-Kommunikationswerkzeuge immer schneller initiieren, organisieren und koordinieren. Besonders digitale Inhalte lassen sich einfach produzieren und distribuieren. Dies zieht allerdings auch ein drastisches Überangebot an Inhalten nach sich, was zu weiteren Problemstellungen führt.

Erstens entsteht ein Konkurrenzkampf um die stark limitierte Aufmerksamkeit (Aufmerksamkeitsökonomie) des einzelnen Rezipienten, der zudem noch seine eigenen Relevanzkriterien für Informationen im Internet ausbilden muss, sofern er nicht völlig wahllos Inhalte konsumieren möchte.

Zweitens verlagert sich der Fokus immer stärker auf einzelne Themenkomplexe. Die Dauer der Auseinandersetzung mit diesen Themen und damit auch deren Durchdringung (Erkenntnistiefe) geht zurück. Die Rezipienten scheinen in Anbetracht des scheinbaren Überangebots an Information flüchtig zu werden; Themen lösen sich schnell gegenseitig ab.

Delta-Beteiligungskultur

Der Kampf um Aufmerksamkeit hat Folgen für politische Inhalte und deren Bearbeitung. Bürgerinnen und Bürger engagieren sich vermehrt punktuell, inhalts- und themengesteuert. Handlungs- und Verhaltensmuster ändern sich durch die Kommunikation, die im zunehmenden Maße durch Internettechnologien bestimmt wird. Aber nicht nur das Handeln, sondern auch das Denken wird geprägt. Neue Denkmuster werden geformt und für selbstverständlich angenommen. Der Rückkanal bei allen Meldungen im Internet ist ein entscheidender Vorgang mit möglicherweise revolutionären Potenzialen. Es entsteht eine Feedback-Kultur mit einem immanenten Mitsprache- und Kommentarrecht, welches sich auch auf politische Belange überträgt. Gerade jüngere Bürgerinnen und Bürger nehmen dieses Mitspracherecht als selbstverständlich an und können mit der Black-Box des Politikprozesses nichts mehr anfangen. Die Transparenzversprechen einer Piratenpartei fallen hier auf einen willkommenen Nährboden. Man sollte sich allerdings nicht fehlleiten lassen, es sind bei weitem nicht nur die jüngeren Bürgerinnen und Bürger, die zu diesem Typus „Neopolitics“ gezählt werden dürfen. Fühlen diese sich in politischen Entscheidungen nicht repräsentiert, nutzen sie die Mittel und Wege des Internets, um auf ihre Belange aufmerksam zu machen. Internet-Tsunamis sind dabei eine Form der Kanalisierung unterschiedlicher Vorstellungen von politischer Teilhabe. Die Differenz in der politischen Beteiligungskultur wird hier als Δ (Delta) beschrieben. Dieser Differenz liegen unterschiedliche Vorstellungen von Demokratie zugrunde, möglicherweise sind diese nicht miteinander vereinbar. Im schlimmsten Fall kann diese Differenz zu einer soziokulturellen Spaltung der Gesellschaft beitragen. Eine Spaltung, die sich allerdings langsam und vermutlich erst nur unterschwellig bemerkbar machen würde.

Chancen für die Demokratie

Auf der positiven Seite sind mit den Veränderungen der politischen Beteiligungskultur auch Möglichkeiten verbunden. Die breitere Einbindung des Bürgers in politische Prozesse kann im digitalen Vorfeld seinen Urspung nehmen und als Frischzellenkur für eingefahrene und alternde demokratische Systeme wirken. Die Forderung von Bürgerseite nach neuen Konzepten und Prozessen im Politikbetrieb, um Erneuerungsimpulse für die Zukunft der Demokratie zu setzen, scheint immer vehementer zu werden. Formate die insbesondere den Typus „Neopolitics“ ansprechen und zur Teilnahme aktivieren.

Zuletzt sollte man auch über grundlegende Erweiterungen unserer demokratischen, politischen Systeme nachdenken. Gut durchdachte Weiterentwicklungskonzepte sind rar. Eine Ausnahme stellt, aus unserer Sicht, die Realutopie des Sozialphilosophen Johannes Heinrichs dar. Dieser wagte sich an einen politisch-strukturellen Entwurf eine „Vierparlamente Demokratie“.[2] [3] Vorbildlich ist die Auseinandersetzung mit den systemischen Schwachstellen unsere parlamentarischen Demokratie. Ob man einen solchen Entwurf für angemessen oder umsetzungsfähig hält, muss jeder für sich selbst entscheiden. Wünschenwert sind aber in Zukunft mehr innovative Konzepte und ein tiefgehender Diskurs über Weiterentwicklungsoptionen und -potenziale von Demokratie.

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[1] Stadler  2012: S. 224

[2] Heinrichs, Johannes 2003: Revolution der Demokratie – Eine Realutopie. Berlin: MAAS Verlag

[3] Heinrichs, Johannes 2005: Demokratiemanifest für die schweigende Mehrheit. Die „Revolution der Demokratie“ in Kürze. Ingolstadt: STENO Verlag