4.5 Der Tsunami-Effekt

Mit Tsunami-Effekt ist eine Abfolge verschiedener On- wie Offline-Mechanismen unter bestimmten Rahmenbedingungen gemeint, die signifikant zur Entstehung eines Internet-Tsunamis beitragen, diesen aber nicht zwangsläufig auslösen müssen. Die einzelnen Mechanismen sind nicht singulär zu betrachten, da sie innerhalb eines komplexen Kommunikationssystems konkret aufeinander Bezug nehmen, miteinander in Wechselwirkung treten und zueinander in Abhängigkeit stehen. Im Wesentlichen handelt es sich um eine Kombination verschiedener psychologischer, technologischer und kommunikativer Prozesse in On- und Offline-Medien (worunter auch Mundpropaganda zu zählen ist), die aufgrund medial inszenierter Inhalte in Gang gesetzt werden.

In den voranstehenden Kapiteln wurden Kampagnenmechanismen, Wechselwirkungen zwischen Mediensystem und der On-/Offline-Sphäre wie auch massenpsychologische Abläufe aufgezeigt. Außerdem wurden innerhalb der Fallstudien konkret auf die gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen, die sog. Klima-Faktoren, hingewiesen, die für die jeweilige Entwicklung der untersuchten Internet-Tsunamis als notwendig evaluiert wurden. Im Folgenden sollen die Ergebnisse der Exploration und Analyse konsolidiert und um Metriken ergänzt werden. Abschließend wird sich noch der Frage gewidmet, warum es sich bei Internet-Tsunamis um ein relativ junges Phänomen handelt, welches immer häufiger und in zunehmend kürzeren Intervallen auftritt.

Die folgende Grafik beschreibt eine Ablaufheuristik, die im weiteren genauer erleutert wird. Hierbei handelt es sich um eine Theorie auf Grundlage der Ergebnisse der Exploration und der Analyse.

Abbildung 4‑12: Die Internet-Tsunami-Spirale

Auslöser und Rahmenbedingungen

Der Auslöser eines Internet-Tsunamis ist in der realen Welt, also der Offline-Sphäre zu verorten. Dieser kann nur rückwirkend betrachtet werden, da er im Moment seines Auftretens online nicht erkennbar ist. Ein Auslöser (Input-Funktion) wurde als ein punktuelles Geschehnis (Bsp.: Erste Plagiatsvorwürfe, Selbstverbrennung Bouazizis) oder eine Verkettung von Geschehnissen definiert, die auf ein entsprechend förderliches gesellschaftspolitisches Klima treffen, wie zum Beispiel vorherrschende sozioökonomische Zustände (Bsp.: Ägypten, Occupy). Der Realkontext variierender Vor- und Rahmenbedingungen ist für die Erklärung des jeweiligen Verlaufs entscheidend (siehe Klima-Faktoren und Input-Funktion der Fallstudien). Erst durch die Transformation eines Offline-Geschehnisses in einen digitalen Inhalt, wird ein Auslöser im Internet gesetzt und kann folglich auch betrachtet werden. Hierbei ist es nochmal wichtig zu erwähnen, dass ein Internet-Tsunami zwangsläufig aus Medieninhalten besteht (Text, Audio, Bild, Bewegtbild), die in den Binärcode überführt wurden (digitalisiert) und eine sinnstiftende Funktion besitzen. Jedes einzelne Kommunikat der Nutzer  innerhalb eines Massenkommunikationsphänomens wie dem Internet-Tsunami wird hier als mediales Artefakt verstanden.

Der Auslöser fungiert als maßgeblicher Impuls und Initialzündung, eine Art der initialen Energie, aufgrund derer weitere Mechanismen in Gang gesetzt werden. Inhaltlich stellt dieser immer ein Anliegen dar, das gegen einen bestehenden Zustand gerichtet zu sein scheint. Die reaktive, negative Komponente scheint hier zur Bündelung von Energien sehr wichtig zu sein. Keiner der untersuchten Fälle basiert auf einem Anliegen, dass nicht konkret auf einem als negativ gewerteten Zustand bezogen ist. Es scheint der öffentlichen Artikulation eines klaren und eindeutigen „Feindbildes“ zu bedürfen, auf das sich divergierende Nutzergruppen mit Interessen und Positionen beziehen können.

Der Auslöser besitzt demnach eine „vereinende“ Funktion. Der auslösende Moment ist zunächst eine Verdichtung eines ganzen Komplexes an Geschehnissen zu einem Inhalt, der die primäre Funktion besitzt, Nutzer emotional zu aktivieren. Dieser Inhalt (Bsp.: Video über Bouazizis Selbstverbrennung, Foto des erschlagenen Khaled Said) unterliegt stets der Interpretation durch den Nutzer, der den Inhalt individuell deutet. Der Inhalt hat eine Stellvertreterfunktion insofern, dass er exemplarisch für einen Gesamtzusammenhang steht und seinen Kontext implizit mittransportiert. Das Foto vom erschlagenen Blogger Khaled Said stand stellvertretend für die gesamte politische Situation im vorrevolutionären Ägypten, ebenso wie das von der Occupy-Bewegung proklamierte Motto „We are the 99 %“. Letzteres impliziert, dass es sich um die Position der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung handelt und selbige betrifft. Der Inhalt wird derart formatiert, dass dieser eine bestimmte Lesart bzw. Wirkungsweise intendiert, um Deutungshoheit zu einem Thema zu erzeugen (siehe Anti-ACTA-Video von Anonymous oder Kony2012). Es handelt sich also um einen taktisch-funktionalen Inhalt, der zunächst die Emotionen und nicht das kritische Urteilvermögen des Nutzers anspricht. Neuere Forschungsarbeiten, die kognitionswissenschaftliche Erkenntnisse mit politischen Entscheidungsprozessen und Kampagnen, zum Beispiel bei Wahlen oder parlamentarischen Entscheidungen, in Verbindung setzen, belegen, dass Emotionen eine maßgebliche Rolle für das Treffen politischer Entscheidungen spielen. Dabei werden Emotionen durch Bilder und die damit verbundenen narrativen Verknüpfungen determiniert.[1] [2] Inhalte sind demnach zur emotionalen Aktivierung oft drastischer Natur und persuasiv gehalten; formal richtet sich die Inszenierung danach, welche Adressatengruppen angesprochen werden sollen (Bsp.: Ästhetik der Kony2012-Kampagne ist auf eine junge Nutzergruppe zugeschnitten).

Phase 1: Penetration von Netzwerken, Identifizierung neuralgischer Punkte

Für die Setzung des Inhalts ist das Timing entscheidend, das sich maßgeblich nach dem gesellschaftspolitischen Klima richtet. Hier spielt auch der Zufall eine fundamentale Rolle. Nahezu stündlich versuchen Nutzer im Internet Empörungswellen auszulösen. Der überwiegende Großteil dieser Versuche führt zu keinem Ergebnis. Einige wenige entwickeln sich zu kurzfristigen Hypes. Darum sind strategische Komponenten, wie sie im Kapitel 4.2) erläutert wurden, von großer Bedeutung. Diese sorgen für Nachhaltigkeit und die gezielte Steuerung von Aufmerksamkeit, als Maßnahme gegen die Flüchtigkeit von Inhalten, die im Internet per se gegeben ist. Mittels emotionaler Aktivierung durch einen initial gesetzten Inhalt wird Energie erzeugt. Wie in Kapitel 4.4 erläutert, wird bei einem Internet-Tsunami eine massenpsychologische Kettenreaktion ausgelöst, die einer beständigen Energiezufuhr bedarf. Stillstand führt zu einer Energieabnahme bzw. einem Energieverlust. Geschwindigkeit und der zeitliche Verlauf sind daher von entscheidender Bedeutung. Grundsätzlich stellt jeder Nutzer mitsamt seinem persönlichen Mikronetzwerk eine potenzielle Energiequelle dar und fungiert als ein Katalysator innerhalb der Reaktion. Da so viele Mikronetzwerke wie möglich penetriert werden sollten, ist hier die Adressierung möglichst divergierender Nutzergruppen entscheidend. Bleibt das Anliegen in einem Interessenskreis verhaftet, so überschneiden sich die Mikronetzwerke der einzelnen Nutzer, was einen weiteren Anstieg der Energie verhindert, da weniger neue Nutzer in die Reaktion eintreten. Um Nutzermassen zu aktivieren, muss der initiale Inhalt in eine Vielzahl voneinander abweichenden Mikronetzwerken distribuiert bzw. multipliziert werden. Hierfür ist es sinnvoll, Schlüsselfiguren bzw. Knotenpunkte als neuralgische Punkte im Internet zu identifizieren und diese gezielt mit einem Inhalt zu adressieren. In anderen Fällen reicht eine einzige Distribution von einem einzelnen Nutzer aus, um eine erste Welle auszulösen. Ein strategisches Vorgehen kann die Entstehung eines Internet-Tsunamis fördern, ist jedoch kein Garant für dessen Auslösung. Auch wenn einzelne taktische Komponenten oder sogar ganze Strategien in allen hier betrachteten Fällen nachgewiesen werden konnten, gibt es keine generelle Strategie zur Auslösung von Internet-Tsunamis. Trifft ein Inhalt auf ein bereits aufgeheiztes gesellschaftspolitisches Klima, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung eines Internet-Tsunamis signifikant.

Phase 2: Online-Informationskaskaden

Die Setzung eines Auslösers hat dann funktioniert, wenn selbiger eine erste Online-Informationskaskade (Bsp.: Shitstorm und Meme) ausgelöst hat, so dass bereits eine größere Anzahl von Nutzern für ein Thema aktiviert wurde. Im Folgenden werden weitere Inhalte gesetzt (Anschlusskommunikation), die ebenfalls weitere Informationskaskaden und verstärkt positive Feedback-Loops provozieren. Das Internet begünstigt durch seine Struktur und die einfache Weiterverbreitung von Inhalten (Sharing-Funktionen) die Bildung von Informationskaskaden. Es hat sich im Rahmen der Fallstudien gezeigt, dass der Wahrheitsgehalt von Informationen nicht entscheidend für deren Verbreitung ist. Oftmals finden ungeprüfte Behauptungen, Vermutungen und Fehlinformationen Eingang in Informationskaskaden. Potenziell können die falschen Informationen jedoch genauso schnell wieder korrigiert werden, wie sie sich ausgebreitet haben.[3]

Schlüsselrolle bei der Verbreitung von Informationen spielen hierbei die reichweitenstarken Blogs und die sog. A-Blogger, da diese über starke Netzwerke verfügen, in denen sich meist weitere technisch hochaffine Nutzer befinden, die sich auch höherschwelliger Produktionsmittel zur Herstellung medialer Inhalte bedienen können. Manche produzieren und distribuieren aufwendige themenbezogene Inhalte (maßgeblich auf Blogs und Videoportalen) und setzen weitere Websites samt Verweisungsstrukturen zu bereits bestehenden Online-Angeboten im selben Themenkreis auf. Andere leiten diese Inhalte in soziale Netzwerke weiter (Facebook, Twitter, Social Bookmarks) oder generieren neue Inhalte aus den bereits bestehenden (Remix). Und wieder andere bedienen sich lediglich der Kommentarfunktion. Eine zunehmende Zahl an Nutzern tritt in die Kommunikation über das Thema ein. Auf der inhaltlichen Ebene wird die kritische Reflexion zugunsten einer psychologischen Überreaktion zurückgedrängt, aufgrund der Ausbildung eines zunehmend selbstbezogenen Referenzsystems, da die Nutzer damit beginnen, sich des Inhalts eines anderen Nutzers als Quelle zu bedienen. Hier kann die Entstehung eines Internet-Tsunamis bereits aktiv mitverfolgt werden. Der initiale Auslöser wird meist noch mittransportiert, hat aber an Wichtigkeit verloren, da jeder weitere Medieninhalt ebenfalls eine neue Welle von Inhalten im Rahmen der Selbstreferenzialität auslösen kann.

Phase 3: Mediensprung 1 – Von sozialen Netzwerken zu Online-Angeboten der Leitmedien

Eine erhöhte Anzahl aktiver Nutzer an eigens eingerichteten Knotenpunkten (Facebook-Fanpages, Kampagnen-Websites) kann festgestellt werden. In diesen virtuellen Schutzräumen entstehen positive Online-Masseneffekte (Sicherheit, Kollektivgefühl, Selbstaufschaukelung), so dass sich die Nutzer untereinander motivieren können und zusätzliche Energie freigesetzt wird. Entscheidend ist die Herstellung einer solchen Online-Masse für die spätere Offline-Aktivierung der Nutzer. Bis jetzt wurde die Online-Sphäre noch nicht verlassen, der überwiegende Großteil der Online-Massenreaktion beschränkt sich auf Clicktivism, die Multiplikation der von Nutzern generierten Inhalte. Einzelne Online-Portale klassischer TV-, Radio- und Printformate werden auf das Thema aufmerksam, sei es durch Recherche der Redakteure (Monitoring aktueller Netzthemen) oder gezielte Penetration durch die Initiatoren. Ist die Durchdringung der ersten Online-Plattformen klassischer Medienformate geglückt, setzt eine erste Wechselwirkung zwischen Social-Media und klassischen Online-Portalen ein. Letztere sind für den Internet-Tsunami von fundamentaler Bedeutung, da sie das Thema einem größeren Nutzerkreis bekannt machen, der dem Tsunami weitere Energie zuführt. Von den Online-Portalen wird das Thema von den Nutzern in die Mikronetzwerke multipliziert, weitere, divergierende Nutzergruppen werden penetriert und fungieren als Energielieferanten für den entstehenden Tsunami. Sind erst einmal einige wichtige Online-Portale reichweitenstarker Nachrichtenformate auf das Thema aufmerksam geworden und haben selbiges redaktionell verarbeitet, kommt es meistens zu einem Dominoeffekt und die restlichen Nachrichtenformate folgen. Dieser Prozess vollzieht sich dann rasant, dem Aktualitätsdogma der traditionellen Berichterstattung geschuldet. Die ersten Informationskaskaden in sozialen Medien dienen vorrangig der Penetration der Online-Portale großer Nachrichtenagenturen. Wird das Thema redaktionell aufgearbeitet, erhöht sich die  Relevanz desselben erheblich. Die Wechselwirkung verstärkt die Selbstreferenzialität, die dem Thema aus sich heraus fortwährend neue Energie zuführt und weitere Nutzergruppen anzieht. Gerade die traditionellen Medienformate bedienen divergierende Nutzergruppen, so dass ein Thema breitenwirksam werden kann.

Phase 4: Mediensprung 2 – Von Online zu Offline

Die nächste Phase beschreibt die Durchdringung der Offline-Sphäre, die wiederum eine weitere Durchdringung der Medien als primäres Ziel hat. Bleibt ein Internet-Tsunami in der Online-Sphäre verhaftet, kommt es früher oder später zum Zerfall der Nutzermasse, die an einigen Knotenpunkten konsolidiert wurde. Die erfolgreiche Transformation einer Online- in eine Offline-Masse ist wiederum von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig und erfordert ein genaues Timing. Wie in Kapitel 4.3 erläutert, stellt die Offline-Masse eine physische Verbindlichkeit zum Thema her und verleiht diesem ein gesteigertes Maß an Wichtigkeit und damit gesellschaftliche Relevanz. Eine weitere Wechselwirkung soll erreicht werden, diesmal mit den Offline-Medien wie TV, Radio und Print. Hierbei gilt, je mehr Menschen sich offline an einer Aktion (meist Demonstration) beteiligen, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Offline-Medien darüber berichten. Relevanzkriterium ist immer der rein quantitative Wert. Zusätzlich wird ein Mechanismus der Mundpropaganda in Gang gesetzt, der fern aller Medieninszenierungen einer der wichtigsten und am wenigsten nachzuverfolgenden überhaupt ist.

Phase 5: Mediensprung 3 – Von Offline zu Online und Durchdringung der relevanten Leitmedien

Kam ein Offline-Event zustande, so wird meist in dessen Rahmen ein hohes Maß an von Nutzern generierten Inhalten (Fotos und Videos) erzeugt, die wiederum in alle bereits durchdrungenen und neuen Online-Kanäle distribuiert werden. Kam es zu einer Berichterstattung der Offline-Medien (allen voran TV), kann das Thema als gesetzt und gesamtgesellschaftlich relevant gewertet werden. Die Inhalte der Offline-Medien werden in deren Online-Verlängerungen distribuiert, diese werden wiederum in die sozialen Medien überführt und schreiben sich dort fort. Sind die relevantesten, sprich reichweitenstärksten Medien on- wie offline durchdrungen, kann von einem Internet-Tsunami gesprochen werden. Auch wenn die Online-Sphäre im Zuge eines Offline-Events verlassen wird, müssen diese im Rahmen der Internet-Tsunamis doch aufgrund der On-/Offline-Wechselwirkungen mitbetrachtet werden, da die Offline-Events als mediale Entsprechungen in die Online-Sphäre wieder überführt werden. Hat das Thema eine gesamtgesellschaftliche Relevanz erreicht, kann versucht werden, die Wechselwirkungen aufgrund beschriebener Mediensprünge [4] zwischen Offline-Welt (Mundpropaganda, Demonstrationen, Print, TV) und Online-Welt (Online-Portale TV & Radio, Online-Portale Print, Social Media) so lange aufrechtzuerhalten, bis realpolitische Maßnahmen als Reaktion folgen.

Wichtige Energiezufuhr: Das Repressive Moment

Ein wichtiger Energielieferant ist das im Rahmen dieser Studie identifizierte repressive Moment. Damit ist ein Akt der Repression gemeint, der gegen das Anliegen und seine Vertreter gerichtet ist. Die Art der Repression ist vielfältig. Diese kann von einem offiziellen Dementi (zu Guttenberg) über die Abschaltung technischer Strukturen (Ägypten) bis hin zu Sanktionen (Occupy) oder offener Gewalt (Arabischer Frühling) reichen. Die Repression kann punktuell oder durchgängig erfolgen, on- wie offline. Entscheidend ist, dass diese in allen beobachteten Fällen kontraproduktiv im Sinne der Unterdrückung eines Massenphänomens wie dem Internet‑Tsunami wirkt. Vorfälle in der Offline-Sphäre (z. B. Polizeigewalt) werden in Medieninhalte transformiert. Die nunmehr medial inszenierte Repression setzte in allen beobachteten Fällen neue Wellen der Empörung frei und führte zu einem Anstieg und der inhaltlichen Verschärfung weiterer, von Nutzern produzierten, medialen Inhalte, die sich auf das repressive Moment beziehen. Es kommt zu einer drastischen Emotionalisierung des Themas, was der On- wie Offline-Masse, als politische „Bewegung“ verstanden, zusätzlich ein hohes Maß an Energie zuführt. Ein repressives Moment führt dazu, dass die noch unentschlossenen und zögernden Nutzer in das Massenphänomen „eintreten“. Der Umschlag in eine Hysterie wird hier wahrscheinlicher. Aufgrund ihrer starken, Energie zuführenden Wirkung werden solche Momente von den Initiatoren, also jener Gruppe, die ihr Partikularinteresse einer weiteren Öffentlichkeit bekannt machen möchte, um realpolitische Reaktionen zu erzwingen, oftmals provoziert [5]. Die medialen Inszenierungen der repressiven Momente besitzen ähnlich wie der Auslöser eine Stellvertreterfunktion für den gesamten Komplex (z. B. steht der pfeffersprühende Polizist John Pike stellvertretend für die Ungerechtigkeit und Hilflosigkeit des gesamten Systems, das dieser in persona vertritt). Hier ist auch die vermeintliche physische Zeugenschaft von großer Bedeutung, derer das Gros der Nutzer in Form von UGC gewahr wird. Die Nutzer „erleben“ die Repression lediglich als medialen Inhalt, also fern jeder physischen Zeugenschaft, billigem diesem jedoch automatisch einen erhöhten Wahrheitsgehalt zu.

Die klassischen Medienformate sind gezwungen, das Geschehnis ebenfalls aufzuarbeiten. Selbst wenn diese zu anderen, mitunter kritisch reflektierten Schlüssen kommen, ist doch das pure Ereignis die wesentliche Information, die beim Nutzer hängenbleibt. Wieder ist das Bild auf seinen reinen Nutzwert reduziert. Somit kann durch eine Provokation einer Repression das bestehende Mediensystem ebenfalls als Energielieferant innerhalb eines Internet-Tsunamis instrumentalisiert werden. Wie bereits beschrieben, kann die Repression verschiedene Formen annehmen, von schlichter Leugnung über Informationsunterdrückung und Zensur bis hin zu staatlicher Sanktionierung auf legislativer und exekutiver Ebene. Sie kann technologischer, medialer und physischer Art sein.

Die grundlegenden Bedingungen für einen Internet-Tsunami sind Verteilungsgeschwindigkeit, Netzwerkreichweite, Diversität von Nutzern und ihrer Mikronetzwerke, bestehende Knotenpunkte (große soziale Netzwerke wie Facebook), Multiplikation der Inhalte und die zunehmende Durchdringung von on- und offline-Mediensystemen. Ein vereinfachter und beispielhafter Ablauf eines Internet-Tsunamis gestaltet sich wie folgt:

1. Aus den sozioökonomischen, wirtschaftlichen, kulturellen und/oder politischen Gegebenheiten werden Kerninformationen abgeleitet (Kontextanalyse).

2. Unter Berücksichtigung des Kontext wird ein Anliegen formuliert, dass sich gegen einen vorherrschenden Zustand richtet.

3. Divergierende Gruppen werden identifiziert, um deren bereits vorhandene Energien zu nutzen und zu verstärken.

4. Knotenpunkte bzw. neuralgische Punkte im Internet werden identifiziert.

5. Das Anliegen wird in eine oder mehrere einfach zu rezipierende Botschaften umgewandelt, die gezielt die identifizierten Gruppen wie auch neue Nutzergruppen emotional aktivieren sollen.

6. Die Botschaften werden medial inszeniert. Die mediale Inszenierung richtet sich nach ihrem Nutzwert. Sie unterstehen dem Diktum der Komplexitätsreduktion (Verdichtung) und zielen auf emotionale Rezeption. Eine Ästhetisierung als UGC schafft Vertrauen, da die Inhalte dokumentarisch und authentisch wirken.

7. Die medialen Inhalte können Teil einer übergeordneten Kampagnenstruktur sein. Die Kampagne zielt auf die Verteilungslogiken und das Crowdverhalten der Nutzer im Internet. Zusätzlich wird die Produktion von UGC angeregt (durch Schablonen wie vorgefertigte One-Liner, Etablierung von Hashtags, Inhalte für Remix).

8. Der Auslöser wird im Internet gestreut. Erste Informationskaskaden entstehen und die Internetkommunikationsstrukturen dienen als Katalysatoren.

9. Eine erste Form der Online-Masse entsteht. Diese wird als „Bewegung“ instanziiert, um einen Mechanismus der Identifikation zu etablieren.

10. Die Online-Masse produziert verschiedene Formen von UGC. Weitere Teile des Internets werden durchdrungen, die Online-Masse wächst. Die zunehmende Geschwindigkeit der Massenreaktion führt zu einer fortschreitenden Reduktion kritischer Reflektion.

11. Nutzer konsolidieren sich an Knotenpunkten (Websites). Positive Masseneffekte setzen ein, die Nutzer bestätigen sich aneinander und schaukeln sich gegenseitig auf. Die Identifikation mit dem Thema nimmt zu.

12. Erste Berichterstattungen durch Online-Portale von Print, TV und Radio folgen. Erste Wechselwirkungen zwischen Online-Portalen und Social Media sind zu beobachten. Weitere Nutzergruppen treten in die Massenreaktion ein.

13. Ein Event in der Realwelt wird angestrebt, um eine Durchdringung der Offline-Medien herbeizuführen.

14. Eine Aktion in der Offline-Sphäre verstärkt die aufkommende Mundpropaganda.

15. Dokumentiertes Material (UGC) des Real-World-Activism wird online distribuiert und multipliziert.

16. Zunehmende Berichterstattungen durch Offline-Medien können beobachtet werden. Das Thema wird gesellschaftlich relevant. Weitere Nutzergruppen treten in die Massenreaktion ein.

17. Wechselwirkungen zwischen Online-Portalen, Social Media und Offline-Medien. Weitere Nutzergruppen treten in die Massenreaktion ein.

18. Mögliches repressives Moment beschleunigt das Wachstum der On- wie Offline-Masse.

19. Ab dem Punkt, an dem alle relevanten Leitmedien durchdrungen sind, kann von einem Internet-Tsunami gesprochen werden.

Es wurde bereits häufiger erwähnt, dass ein Internet-Tsunami im Moment seines Erkennens einem Massenphänomen in der Horizontalen der Gesellschaft ähnelt. In den hier betrachteten Fällen jedoch konnte bei jedem Internet-Tsunami eine kleine Gruppe von Personen identifiziert werden, die zunächst ein Partikularinteresse verfolgten und versuchten, dieses mittels des nötigen Know-Hows auf technologischer, inszenatorischer und gesellschaftspolitischer Ebene einer größtmögliche Masse von Nutzern bekannt zu machen. Es muss jedoch ausdrücklich festgehalten werden, dass nicht jeder Internet-Tsunami Ergebnis einer strategischen Operation ist. Kampagnenstrukturen fördern Internet-Tsunamis im Sinne einer Wahrscheinlichkeitserhöhung, sind aber keinesfalls ein Garant für deren Entstehen. Oftmals geschieht die Auslösung erster Informationskaskaden zufällig und wird von einer Interessensgruppe erst nachträglich instrumentalisiert. Das oben aufgeführte Schema soll keine kausalmechanistische Beziehung aufzeigen, da sich ein Internet-Tsunami nicht linear entwickelt. Außerdem ist die Betrachtung eines Internet-Tsunamis zum jetzigen Zeitpunkt nur retrospektiv möglich. Darum sind die Einzelpersonen oder Interessensgruppen, die möglicherweise hinter einem Internet-Tsunami stehen, wenn überhaupt, auch nur retrospektiv zu ermitteln. Ob deren Anliegen nun redlich sind im Sinne einer Verbesserung von als negativ empfundener gesellschaftspolitischer Zustände, kann nicht durch eine Analyse von Internet-Tsunamis geklärt werden. Darüber hinaus ist der Rückschluss von einer Online-Identität auf eine Offline-Identität, also auf einen realen Nutzer samt dessen Zielen und Intentionen, per se nicht möglich.

Grundsätzlich darf jedoch behauptet werden, dass sich für nahezu jedes gesellschaftspolitische Thema eine Interessensgruppe finden lässt. Im Rahmen eines Internet-Tsunamis treten diese Interessensgruppen gewöhnlich in den Prozess mit ein, wenn der Zeitpunkt günstig erscheint. Es muss nicht hinter jedem Internet-Tsunami eine organisierte Gruppe stehen, die an der Auslösung eines Tsunamis aktiv beteiligt ist. Internet-Tsunamis verstanden als Massenphänomene können selbstgesteuert und fremdgesteuert sein.[6] Selbstgesteuert bedeutet, dass von Anfang an ein bestimmtes Ziel verfolgt wird, eine Protestbewegung aus einem bestimmten Kollektiv hervorgeht. Während fremdgesteuert eine grundsätzliche Orientierung an Anderen meint, eine Art des Herdeneffekts. Die beiden Arten sind nicht voneinander zu trennen. Die meisten Nutzer können innerhalb eines Internet-Tsunamis zu verschiedenen Phasen beide Rollen einnehmen. Eine rational durchdrungene Selbststeuerung kann in ein massenpsychologisch fremdgesteuertes Phänomen verfallen und umgekehrt. Gerade die vielfältigen Korrektive, die im Zuge verschiedener Massenphänomene im Internet immer wieder auftreten und sich für eine Überprüfung der Fakten einsetzen, zeugen von dieser Umkehrung.

Es stellt sich auch die Frage, ob es sich bei einem Internet-Tsunami nicht um eine Kombination aus Shitstorm und Flashmob handelt. Dies ist klar zu verneinen, da singuläre Internet-Phänomene wie ein Shitstorm keine realpolitischen Implikationen nach sich ziehen, die zu tatsächlichen Veränderungen im politischen Gefüge führen. Wie genau diese realpolitischen Implikationen definiert sind, wird im gleichnamigen Kapitel 7 dieser Studie erläutert werden. Shitstorms sind lediglich einzelne Informationskaskaden, die innerhalb eines Internet-Tsunamis auftreten. Ein Shitstorm steht im gleichen Verhältnis zu einem Internet-Tsunami, wie ein Flashmob zu einem Massenprotest. Größe, Wirksamkeit und Nachhaltigkeit sind hier die entscheidenden Faktoren.

Dass Internet-Tsunamis gerade jetzt in verstärktem Maße zu beobachten sind, ist im Wesentlichen auf die Grundbedingungen zurückzuführen, die bereits in Kapitel 1.2 Digitalisierung der Gesellschaft zusammengefasst wurden. Zu diesen zählen niedrigschwellige Tools zur Erstellung digitaler Inhalte (UGC), ubiquitäre technologische Nutzungsmöglichkeiten (mobile Endgeräte), die Konsolidierung von Nutzermassen in sozialen Netzwerken (Facebook, Twitter, YouTube), die Verlagerung politischer Anliegen ins Virtuelle, technisch affine und politisierte Nutzergruppen sowie national und international aktive Blogosphären. Gerade anhand letzterer lässt sich feststellen, dass es sich bei einem Internet-Tsunami nicht um eine Creatio ex nihilo handelt, sondern um ein Phänomen, welches auf langfristigen technologischen sowie (nutzer)kulturellen Entwicklungen basiert und nunmehr zur konsequenten Ausprägung kommt.

Außerdem handelt es sich beim Internet um ein noch weitestgehend unkontrolliertes Kommunikationssystem, das nicht von den klassischen Gatekeepern der bereits tradierten Mediensysteme beherrscht wird (Kontrollverlust). Die Möglichkeiten der Nutzer ihre Anliegen in einem Massenmedium zu veröffentlichen, direkt mit beliebig vielen Nutzern in Kommunikation zu treten und global zu interagieren, sich über einfach zu bedienende Tools zu Massenprotesten zu koordinieren und selbige zu organisieren, sind die Basis auf der sich Internet-Tsunamis herausbilden können. Eine neue Form der internettechnologisch determinierten Protestkultur scheint im Entstehen begriffen. Und nicht zuletzt hat diese auch zu einer Veränderung des klassischen Mediensystems in dem Sinne geführt, dass die großen Leitmedien eigene, unabhängige Online-Redaktionen aufgebaut haben, die den Phänomenen erst zu ihren Massen verhelfen.

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[1] Westen, Drew 2007: The Political Brain. The Role of Emotion in Deciding the Fate of the Nation. New York: Public Affairs

[2] Lakoff, George 2008: The Political Mind. A Congnitive Scientist’s Guide to Your Brain and its Politics. London: Penguin Books

[3] Sunstein, Cass R. 2007: Republic.com 2.0. New Jersey: Princeton University Press, 86 – 90

[4] vergl. auch Abbildung 2‑4: Internet-Tsunamis – Auslöser und Ausbreitungswege (beispielhaft)

[5] vergl. Interview 08

[6] vergl. Interview 07