6.2 Die neue Beteiligungskultur

Internet-Tsunamis führen zu einer offensichtlichen Bildung einer politischen Masse und erzeugen dadurch Druck auf politische Entscheidungsträger und –prozesse. Die gesellschaftlichen Hintergründe und ursächlichen Rahmenbedingungen erschließen sich jedoch nicht ohne Weiteres und bedürfen einer genaueren Analyse. Diese soll im folgenden Kapitel erfolgen, es geht dabei um folgende Fragen: Auf welcher gesellschaftlichen Grundlage bilden sich Internet-Tsunamis? Welche sozio-kulturellen Veränderungsprozesse begünstigen die Bildung von Internet-Tsunamis im digitalen Zeitalter? Welche politischen Forderungen gehen damit einher?

Das Internet wirkt auf Gesellschaft

Ohne Zweifel hat das Internet einen nachhaltigen und prägenden Einfluss auf fast alle Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Wir kommunizieren in Echtzeit, synchron oder asynchron, per Email, Chat, IP-Telefonie, privat wie geschäftlich. Wir kaufen Waren und Dienstleistungen in Online-Shops, erledigen unsere Bankgeschäfte per Online-Banking, machen unsere Steuererklärung online, verbringen unsere Freizeit auf Videoplattformen, in sozialen Netzwerken, in Game-Communities oder suchen nach Informationen um unseren Wissensdurst zu stillen. Laut einer BITKOM [1]-Studie erklären drei Viertel der Internetnutzer, nicht mehr auf das Internet verzichten zu können und verweisen Fernsehen, Bücher, Zeitungen und Zeitschriften sowie Handys auf die hinteren Plätze, als entsprechend für sie weniger wichtige Medien. Für Internetnutzer ist das Web zum wichtigsten Medium geworden. BITKOM-Präsident Prof. Dieter Kempf kommentiert: „Wer erst einmal mit dem Internet lebt und arbeitet, spürt sehr schnell seinen Wert für Information, Kommunikation und Unterhaltung“.[2]

„Neue Medien bedeuten neue kulturelle Umwelten. Sie verändern das Terrain, auf dem wir uns geistig bewegen, und sie verändern den Zugang zu Orten beziehungsweise zu Informationen, was mitunter das gleiche ist. Das Internet und digitale Medien wie das Handy stehen für die bislang letzte große grundsätzliche Veränderung der Medienlandschaft und es gibt nicht wenige Stimmen, die darin ein revolutionäres Potenzial sehen. […] Mittlerweile scheint sich sogar eine ganze junge Generation über das Internet zu definieren und ihre digitalen Affinitäten als Distinktionsmerkmal gegenüber anderen zu nutzen.“[3]

Es lohnt sich, die Vielfalt der vorgenannten Aspekte genauer zu betrachten und anschließend zu untersuchen, woran sich genau das revolutionäre Potenzial des Internets festmachen lässt. Schon dem Fernsehen und Radio, als damals neuen Medien, wurden revolutionäre Potenziale nachgesagt.

Wie bereits in Kapitel 1.2 Digitalisierung der Gesellschaft aufgezeigt, wird durch das Internet jeder Online-Nutzer potentiell in die Lage versetzt, Inhalte zu verarbeiten, zu verändern und weiterzugeben. Dadurch verändern sich die klassischen Rollenbilder von Produzenten und Rezipienten, sie verschmelzen zu einer Person, dem Prosumer (engl. producer + consumer).[4]

Auf Systemebene unterscheidet der renommierte Medienwissenschaftler Manuel Castells zwischen „mass communication“ und „mass-self communication“, also Massenkommunikation – ein Sender, viele Empfänger bei zentalisierter Produktion der Inhalte – und der Selbstkommunikation der Massen – viele Sender, viele Empfänger, bei dezentral produzierten Inhalten.[5] Betrachtet man dies aus einer Perspektive der kulturellen Folgenabschätzung im Sinne einer Veränderung von Handlungs- und Verhaltensmuster, dann ist neben der Vielzahl an Sendern und der selbst produzierten Inhalte ein anderer Punkt von besonderer Bedeutung. Dies sind die Veränderungsprozesse im täglichen Verhalten und Denken der Menschen, die durch die Art der Kommunikation bei den beteiligten Akteuren ausgelöst werden. Jeder kommunikative Akt, wie zum Beispiel Fotos und Videos in ein soziales Netzwerk hochladen, Blogbeiträge verfassen oder Status-Updates posten, intendiert immer die Erzeugung einer Reaktion bzw. eines Kommentars. Einwegkommunikation wird zu Mehrwege-Kommunikation. Es öffnet sich bei jedem kommunikativen Akt potenziell ein Rückkanal. Auf jede Nachricht oder Meldung kann mit einem unmittelbaren Feedback via Rückkanal reagiert werden. Der für alle Benutzer offen stehende Rückkanal, dieses potenzielle Mitsprache- und Kommentarrecht bei allen Meldungen, ist die eigentliche kulturelle Revolution des digitalen Zeitalters.

Eine neue politische Beteiligungskultur

Die politischen Folgen können drastisch sein, denn es droht möglicherweise eine kulturelle Spaltung der Gesellschaft. Diejenigen, bei denen der Rückkanal Teil des Alltags geworden ist („Digital Residents“) bzw. die primär mit diesem aufgewachsen sind („Digital Natives“), werden vermehrt auch über die üblichen parlamentarischen Verfahren hinaus ein Mitsprache- und Kommentarrecht bei politischen Belangen einfordern. Wir wollen sie daher den Typus „Neopolitics“ nennen.

„… es [gibt] einen deutlichen Generationenunterschied bei der Frage, welche Akzeptanz demokratische Entscheidungen finden: Jüngere Menschen sehen es zu zwei Dritteln als legitim an, gegen den Mehrheitsbeschluss eines kommunalen Parlamentes mittels Bürgerinitiativen oder Demonstrationen vorzugehen, während fast die Hälfte der über 60-Jährigen den Beschluss als gegeben hinnehmen.“[6]

Zahlenmäßig ist der Typus Neopolitics anteilig bezogen auf die Gesamtbevölkerung am Steigen. Insbesondere in der Generation von 14 bis 29 Jahren bildet dieser möglicherweise sogar die Mehrheit. Die meisten Entscheidungsträger in Machtpositionen entsprechen derzeit eher dem anderen Typus, sinngemäß hier als „Oldpolitics“ bezeichnet, haben also noch die Vorstellung einer Politik der Einwegkommunikation (die Politik entscheidet, die anderen folgen). Im zunehmenden Maße treffen hier grundverschiedene Wertevorstellungen aufeinander. Der Sozialwissenschaftler Peter Lohauß schreibt:

„Das unterstreicht nachdrücklich, dass hier ein tiefer ideologischer Graben aufgesrissen ist zwischen denjenigen, die sich noch sicher an den Schalthebeln der Politik im Namen vorgeblich »normaler« Verhältnisse wähnen, und einer nachwachsenden Generation, die nichts weiter versucht, als ihre individuellen Ansprüche mit den Widersprüchen einer individualisierten und ökonomisierten Lebenswelt überein zu bringen.“[7]

Internet-Tsunamis sind Vorboten einer möglichen Form der Kanalisierung. Wenn sich der Bürger des Typus Neopolitics nicht politisch repräsentiert fühlt oder aber Entscheidungen anstehen bzw. getroffen wurden, die seinen Interessen zuwiderlaufen, dann schafft er sich über Kanäle jenseits tradierter Beteiligungsformen lautstark Gehör.

Der Politikwissenschaftler Roland Roth schreibt hierzu:

Occupy Wall Street und Acampadas können zu Vorboten einer neuen Generation von Protesten werden: situative Bewegungen mit dem Anspruch auf liquide Demokratie. Sie sind noch weniger ideologisch fixiert, organisations- und ressourcenabhängig, als dies schon bei den neuen sozialen Bewegungen der Fall war. Sich in Camps und auf Plätzen zu versammeln, um dort gemeinsame Ziele und Handlungsmöglichkeiten auf gleicher Augenhöhe zu debattieren, erinnert an die Ursprünge der Demokratie im antiken Athen. Internet und soziale Medien bieten neue Kommunikations- und Mobilisierungschancen.“[8] [9]

Die nächste Generation Bürgerdialog?

Der Einfluss der Massen durch die neue politische Beteiligungskultur ist der Politik nicht entgangen. Ein Versuch auf supranationaler Ebene soll die „Europäische Bürgerinitiative“ der Europäischen Union zu mehr basisdemokratischer Erdung verhelfen und den Bürger näher an die Institutionen in Brüssel heranführen. Allerdings bewerten Experten diese eher als einen gut gemeinten Versuch, ohne wirkliche Folgen.

„Die Europäische Bürgerinitiative gilt ihren Kritikern als zahnloser Tiger. Zu hoch sind die Hürden, die für eine erfolgreiche Bürgerinitiative genommen werden müssen. Innerhalb von zwölf Monaten muss eine Initiative mindestens eine Million Unterschriften in mindestens sieben verschiedenen Mitgliedsstaaten sammeln, wobei in den sieben Mitgliedsstaaten selbst eine Mindestzahl von Unterstützern gefunden werden muss. Kommen über eine Million Unterschriften zusammen, und wird die nötige Mindestzahl aber nur in sechs Staaten erreicht, ist die Initiative gescheitert.“[10]

Auf der Bundesdeutschen Ebene offerierten verschiedene Bundesministerien Bürgerdialogangebote.[11] Die Medien stehen den Offerten teils kritisch gegenüber, so ist bei Spiegel Online zu lesen: „Echter Dialog wird meist nur vorgetäuscht. Das Ergebnis ist eine Pseudobeteiligung: Politik 1.0 statt Web 2.0.“[12] Die Frage, inwiefern Dialogangebote  eine hochwertige Einbindung des Bürgers, sowohl quantiativ als auch qualitativ gewährleisten können, bleibt bis dato scheinbar noch nicht ausreichend beantwortet.

Mut für Experimente könnte der Beantwortung dieser Frage zuträglich sein, denn die Chancen scheinen die Risiken zu übwerwiegen, so schreibt der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte:

„Die ergebnisorientierte Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger im Sinne einer modernen, rückgekoppelten Beteiligung sichert langfristig die Legitimität von Entscheidungen. […] Mit institutioneller Phantasie kann zudem die Verzahnung parlamentarischer und außerparlamentarischer Online-Prozesse gelingen. Modell könnten hier repräsentativ zusammengesetzte Bürgerkammern sein, die mit einer Reaktionsverpflichtung für die Parlamente ausgestattet sein könnten. Bürgerpartizipation als Gesellschaftsberatung könnte so in einem neuen Format getestet werden, das seinen Ursprung im digitalen Vorfeld hätte. Die repräsentative Demokratie würde auf diese Weise neue Akzeptanz erhalten.“[13]

Internettechnologie determinierte Gesellschaft

Zum Abschluss des Kapitels über die veränderte Beteiligungskultur soll hier noch eine Beobachtung geteilt werden, die sich auf den Aspekt der kulturellen Veränderungen bezieht. Die Anfänge der breiteren gesellschaftlichen Nutzung von Internettechnologien kann ungefär auf Anfang der 90er Jahre datiert werden. Betrachtet man rückblickend diese letzten 20 Jahre, so lässt sich konstatieren, das Internet hat maßgeblich die gesellschaftliche Entwicklung mitgeprägt, teilweise sogar neue gesellschaftliche Handlungsmuster determiniert. Wir surfen im Internet, googeln, tweeten, haben Follower, stupsen Freunde (die im deutschen Sprachgebrauch höchsten als Bekannte bezeichnet werden können), posten Fotos und taggen diese mit den Namen eben erwähnter „Freunde“. Wer aber gestaltet diese Kommunikationsräume, deren Sprachregelungen und Interaktionsmuster uns maßgeblich beeinflussen?

„In einem ganz wesentlichen Punkt steht die Debatte über die Folgen der digitalen Medien für demokratische Teilhabe erst am Anfang: Begreift man die sozialen Medien als Kommunikationsraum, in dem sich vernetzte Öffentlichkeiten formieren, muss auch über die Teilhabe an dessen Gestaltung nachgedacht werden. Bislang sind vor allem die Plattformbetreiber und Softwareentwickler die Architekten der neuen Kommunikationsräume. Sie programmieren den Software-Code und damit die Optionen und Restriktionen, die den Nutzerinnen und Nutzern für Austausch und Partizipation zur Verfügung stehen. Sie kanalisieren das Nutzerhandeln, wenngleich sie es nicht völlig determinieren.“[14]

Man muss sich die Frage stellen, ob demokratische Teilhabe nicht auch bedeutet, diese Kommunikationsräume mitzugestalten. Anders formuliert, hätten wir ein gemeinschaftlich getragenes soziales Netzwerk, dann müssten wir Facebook nicht zur Herstellung politischer Öffentlichkeit nutzen und uns damit den Geschäftsbedingungen (AGB‘s) eines privatwirtschaftlichen US-amerikanischen Unternehmens unterwerfen. Dies ist kein Plädoyer für ein staatliches oder bürgerorganisiertes soziales Netzwerk. Es geht vielmehr um einen Denkanstoß. Die unsichtbare Hand des Marktes regelt eben nicht automatisch alle Entwicklungen zum Wohle der Gemeinschaft. Staatliche Rahmensetzung wie auch Impulse könnten hier ebenso von Nöten sein wie auch zivilgesellschaftliche und privatwirtschaftliche Initiativen.

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[1] BITKOM: Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und Neue Medien e.V. (27.06.2012)

[2] BITKOM (o. V.) 14.07.2011: Das Web ist das wichtigste Medium unter Internetnutzern. (27.06.2012)

[3] heise online (Stumberger, Rudolf) 09.01.2012: Wie neue Medien den Informationsfluss und damit die Gesellschaft verändern. (28.06.2012)

[4] Der Begriff Prosumer wurde erstmals durch den Zukunftsforscher Alvin Toffler, in dessen Buchveröffentlichung „The Third Wave“ geprägt. Toffler, Alvin 1980: The Third Wave. New York: Bantam Books

[5] Castells, Manuel 2009: Communication Power. Oxford: University Press. S. 54 – 55

[6] Bergmann, Knut 11.06.2012: Zum Verhältnis von Parlamentarismus und Protest. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APUZ 25-26/2012), Protest und Beteiligung. (29.06.2012)

[7] Lohauß, Peter 2012: Weshalb es Piraten gibt. Jenseits der Sicherheit – Gesellschaftswandel und politische Erosion. In: Kommune, 30. Jahrgang, 4/2012, S. 73

[8] Roth, Roland 11.06.2012: Occupy und Acampada: Vorboten einer neuen Protestgeneration?

[9] Acampada werden die Straßenproteste in Form von Zeltlagern auf öffentlichen Plätzen in Spanien 2011/12 genannt

[10] heise online (Duwe, Silvio) 02.06.2012: Europäische Kommission will Bürgerinitiative gegen Atomkraft nicht zulassen. (28.06.2012)

[11] „Dialog Internet“ (BMFSFJ), „Bürgerdialog Nachhaltigkeit (Bundeskanzleramt), „Vergessen im Internet“ (BMI), „Dialog über Deutschland“ (Bundeskanzleramt), „Bürgerdialog Zukunftsthemen“ (BMBF)

[12] SPIEGEL ONLINE (Becker, Sven) 02.09.2011: Teure Websites: Regierung scheitert am Bürgerdialog. (02.06.2012)

[13] Korte 2012

[14] Schmidt, Jan-Hinrik, 06.02.2012: Das demokratische Netz? In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APUZ 7/2012), Digitale Demokratie, Online. (29.06.2012)