5.3.4 Soziale Systeme

Es wurde festgestellt, dass eine Beobachtung in der Operation des Bezeichnens und Unterscheidens besteht.[1] Somit kann nun auf den genaueren Aufbau von „Systemen“ eigegangen werden, da der Ausgangspunkt die Unterscheidung von System und Umwelt darstellt. Ein System konstituiert sich nämlich genau aus dieser Unterscheidung. Somit folgt, dass Umwelt und System sich gegenseitig „benötigen“:

„Die Systeme in der Umwelt des Systems sind ihrerseits auf ihre Umwelten hin orientiert. Über fremde System/Umwelt-Beziehungen kann jedoch kein System ganz verfügen, es sei denn durch Destruktion. Daher ist jedem System seine Umwelt als verwirrend komplexes Gefüge wechselseitiger System/Umweltbeziehungen gegeben, zugleich aber aus als eine durch das eigene System selbst konstituierte Einheit, die eine nur selektive Beobachtung erfordert.“[2]

Im Folgenden werden die Systeme nach Luhmann, die Binäre Codierung und die Strukturelle Kopplung betrachtet.

1. Systeme nach Luhmann

Luhmann unterscheidet folgende Systeme:

Abbildung 5‑1: Systeme nach Luhmann [3]

Dieses Schema legt Luhmann in seinen Betrachtungen zu Grunde. Allerdings darf dieses nicht als hierarchisch verstanden werden, sondern dient dazu Vergleichseinheiten festzulegen.[4] Die Gesellschaft dient hier als das umfassendste soziale System. Innerhalb des sozialen Systems kommt es im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung „zu einer modernen Gesellschaft mit einer funktionalen Differenzierung, der Ordnungsform, die für die heutige Gesellschaft kennzeichnend ist.“[5] Luhmann begreift diesen Vorgang analog zur Biologie und sieht dies als einen evolutionären Prozess an. Wie ein biologisches System, erzeugt sich das soziale System durchgehend selbst und kann nicht vom Individuum gesteuert werden. Somit entwickelte sich das soziale System der Gesellschaft im Laufe der Geschichte weiter. Drei Differenzierungsformen führten zu der heutigen Beschaffenheit.

In den primitiven Gesellschaften vollzieht sich Kommunikation im Wesentlichen in der unmittelbaren Interaktion unter Anwesenden.[6] Die Teilsysteme sind in dieser Gesellschaftsform auf Gleichheit angelegt und differenzieren sich nach Abstammung oder Wohngemeinschaften. „Die Unterscheidung anwesend/abwesend funktioniert hier als Grundlage für die Schließung von Kommunikationssystemen, die jeweils nur so lange existieren, wie Personen sich zur gleichen Zeit am gleichen Ort befinden und Mitteilungen aneinander adressieren.“[7] Wer den Ort verlässt, ist nicht mehr direkt erreichbar und scheidet aufgrund der Distanz aus der Kommunikation aus. Umgekehrt greift dieser Vorgang natürlich auch. Wer hinzuzieht und eine räumliche Nähe schafft, kann wiederum an der Kommunikation partizipieren. Allerdings ist in archaischen Gesellschaften die Grenzziehung zwischen den Kommunikationssystemen nicht natürlich gegeben, da diese selbst darüber entscheiden können, wer an der Kommunikation partizipiert und wer nicht.[8] Dies führt dazu, dass in unmittelbarer Nähe befindliche Personen ignoriert werden können. Andererseits ist es möglich, „entfernt Stehende durch Zurufe einzubeziehen oder Bäume, Steine, die Geister der Ahnen als anwesende Kommunikationspartner zu behandeln“.[9]

Mit den im Laufe der Zeit entstehenden gesellschaftlichen Veränderungen brach diese „Starrheit“ der Teilsysteme langsam auf. Diese hochkulturellen Gesellschaften expandierten weit über den unmittelbar erreichbaren Personenkreis hinaus und lockerten die Bindung von Anwesenheit und Kommunikation deutlich.[10] Der Handel ließ Distanzen geringer werden und spezialisierte Berufsrollen, die frühe Form der Arbeitsteilung, steigerten die Produktivität der Gesellschaft. Des Weiteren institutionalisierten sich symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien wie Geld und Macht und sicherten die Annahme von Kommunikation über Grenzen hinweg.[11] Die Voraussetzung dafür war, wie Schneider beschreibt, „die Bildung von Institutionen der Herrschaft und die Entstehung einer Schicht, die primär mit Aufgaben der Ausübung und Sicherung von Herrschaft befaßt ist, d.h. politische, administrative, militärische, rechtliche und religiöse Aufgaben erfüllt“.[12] Dadurch kam es zur Differenzierung zwischen einer überregional agierenden Oberschicht und einer Unterschicht, die weiterhin in lokalen Einheiten lebte.[13] Mit der Differenzierung dieser verschiedenen Schichten war „die räumliche Differenzierung zwischen den städtischen Zentren [verknüpft], in denen die Herrschaftsfunktionen zusammenlaufen, und den von dort aus beherrschten entfernteren Gebieten, der Peripherie“.[14] Die Oberschicht sicherte sich in der Gesellschaft den Zugang zu bedeutenden Rollen, was dazu führt, dass gesellschaftlich relevante Kommunikation nur in dieser Schicht stattfindet.

Eine weitere Form der Differenzierung stellte die „stratifikatorische“ dar. Diese lässt sich im Mittelalter verorten und basierte auf der Unterscheidung zwischen Adel und Volk. Das Prinzip der stratifikatorischen Differenzierung überlagerte und verdrängte die segmentäre Differenzierung als primäre gesellschaftliche Differenzierungsform. Die räumliche Differenzierung zwischen den jeweiligen Wohngebieten „wird transformiert in eine Differenz zwischen den städtischen Herrschaftszentren und den Siedlungsgebieten an der Peripherie eines Herrschaftsgebietes“.[15]

Die moderne Gesellschaft zeichnet sich durch eine „funktionale Differenzierung“ aus, welche sich aufgrund der immer weiter steigenden Komplexität, die z. B. durch neue Machtformen, Familienkonstellationen und Wirtschaftssysteme zunahm, aus dem System Gesellschaft entwickelte. „Die Umstellung gesellschaftlicher Differenzierung auf […] funktionale Differenzierung hat weitreichende Folgen.“[16] Die moderne Gesellschaft lässt sich, im Gegensatz zu der archaischen, statt als Einheit „nur noch als vielfältige funktionale Einheit von Differenzen beobachten, je unterschiedlich[er] aus der Sicht der jeweiligen Teilsysteme“[17]. Damit wird ein weiterer grundlegender Begriff der Systemtheorie eingeführt. Teilsysteme sind die Ausdifferenzierung wichtiger gesellschaftlicher Funktionen. Jedes dieser Teilsysteme übernimmt eine spezielle Funktion in der Gesellschaft und bedient ausschließlich diese.[18] Wirtschaft, Kunst, Wissenschaft, Politik, Pädagogik, Religion, Recht, Liebe stellen einige dieser funktionalen Ausdifferenzierungen dar. Diese Teilsysteme stellen Problemlösungen für die Bewältigung gesellschaftlich gewachsener Kommunikation dar.[19] Sie entstehen also, wenn die bereits vorhandenen Differenzierungsformen an ihre Entwicklungsgrenzen stoßen. Daraus folgt, dass sich Gesellschaft nur weiterentwickeln kann, wenn es die Einschränkung seiner bestehen Funktionssysteme überwinden kann.

Diese Ansicht führt zu der Frage, wie sich die Systeme grundlegend in ihrer Kommunikation unterscheiden können, wenn sie doch im selben System, der Gesellschaft, zu verorten sind? Luhmann bedient sich an dieser Stelle der „Codierung“, welches die Funktion eines Teilsystems steuert. Diese „Codierungen“ haben in jedem Teilsystem nur einen Zweck: Die Reduktion von Komplexität.

2. Binäre Codierung

Bereits zu Beginn dieses Kapitels wurde dargestellt, wie unwahrscheinlich Kommunikation ist. Selbst bei einer simplen Kaufabsicht in einem Geschäft bleiben unzählige Möglichkeiten auf eine Mitteilung zu reagieren. „Codierungen“, grundsätzlich binäre, reduzieren diese Unwahrscheinlichkeiten in einer hoch entwickelten Gesellschaft und stellen die Möglichkeit der Anschlusskommunikation sicher. In der folgenden Abbildung werden einige Beispiele gezeigt.

Teilsystem Binäre Codierung
Erziehung besser/schlechter
Kunst schön/nicht-schön
Politik Macht/Ohnmacht
Recht Rechte/Unrecht
Religion Immanenz/Transzendenz
Wirtschaft zahlen/nicht-zahlen
Wissenschaft wahr/unwahr

Tabelle 7‑1: Beispiele für binäre Codierung

Nehmen wir nun das Beispiel des Teilsystems Wissenschaft. Dieses definiert sich durch die Unterscheidung von wahr und unwahr. Die Unterscheidung ist unveränderlich, da das System nur in diesem Code operieren kann. Eine Theorie ist nur solange wahr, bis sie wiederlegt wurde. Mit dieser Einfachheit lässt sich das Teilsystem der Wissenschaft beschreiben. Ähnlich verhält es sich mit der Wirtschaft. Sie operiert in ihrem Teilsystem nur mit dem Code zahlen oder nicht-zahlen.

Diese Einschätzung deckt sich jedoch nicht immer mit der Alltagswahrnehmung, da sich diese als äußerst differenzierter darstellt. Dieses „Problem“ entsteht durch sog. „Programme“. Ich möchte dies kurz anhand eines Beispiels darstellen.

Es gilt allgemein als anerkannt, dass sich Lebewesen evolutionär entwickeln. Diese Ansicht gilt somit im Teilsystem der Wissenschaft als wahr. Dennoch existieren religiöse Gruppierungen, die diesen Vorgang leugnen und z. B. einer kreationistischen Ansicht folgen. Für das System der Wissenschaft ändert diese Ansicht nichts, da es wissenschaftlicher Konsens ist, dass die Evolution biologische und physiologische Entwicklungen in der Natur vorantreiben. Diese Aussage bleibt somit auch in einer kreationistischen Gemeinde wahr. Der Grund für die Leugnung liegt somit nicht am Teilsystem der Wissenschaft, sondern an eine Art „Störfeuer“, welches in der Systemtheorie mit dem Begriff „Programm“, in diesem Fall der Religion, gefasst wird. Durch die Dogmatik der religiösen Auffassung können die Anhänger der bewiesenen Aussage nicht folgen, weil es in diesem Fall die Auslegung der Bibel nicht erlaubt. Die wissenschaftlichen Ergebnisse müssen somit geleugnet werden. Deswegen folgen die Glaubensanhänger einer gegensätzlichen Auffassung.

Dieses Beispiel illustriert die Funktion von Programmen in der Systemtheorie und stellt den Gegensatz zur Codierung heraus. Diese sind im Gegensatz zur Codierung flexibel angelegt und bewirken, dass sich Teilsysteme für Einflüsse aus der Umwelt öffnen können. Wäre dies nicht der Fall würde der Alltag nur aus binären Entscheidungen bestehen, da es keinen Wert geben würde, nach dem eine Entscheidung getroffen werden kann. So kann nur über Recht und Unrecht entschieden werden, „wenn es eine Regel gibt, die es erlaubt, den einen oder anderen Wert einzuordnen“[20]. Das Programm, das diesen Wert liefert, ist das Gesetz.

Programme öffnen somit ein System für Einflüsse aus der Umwelt. Gleichzeitig bleiben die Codierungen in den Systemen bestehen. Man kann damit die Funktion von Programmen als Steuerung der einzelnen Teilsysteme interpretieren.[21] Damit folgt Luhmann strikt dem Vorbild der Biologie und erklärt zugleich den Begriff eines „autopoietischen“ Systems:

„Systeme entstehen durch Grenzziehung. Ein Innen muß von einem Außen, ein System von seiner Umwelt unterschieden und diese Differenz in der Zeit stabil gehalten werden. Sofern Systeme in der Lage sind, eine solche Innen/Außendifferenz selbständig durch die Erzeugung systemeigener Elemente aus systemeigenen Elementen kontinuierlich zu reproduzieren, handelt es sich um autopoietische (=sich selbst erzeugende) Systeme.“[22]

Trotz dieser Aussage bleibt zunächst unklar, wie sich ein System kontinuierlich selbst reproduzieren soll. Deswegen soll an dieser Stelle noch auf die Analogie zum psychischen System zurückgegriffen werden:

„Psychische Systeme reproduzieren sich durch die kontinuierliche Verkettung von Gedanken, die das jeweilige psychische System als ‚meine Gedanken‘ identifizieren kann (=selbstbezüglicher oder selbstreferentieller Aspekt); zugleich hat jeder Gedanke etwas zum Gegenstand, ist er auf etwas gerichtet (z.B. das Wetter, die Arbeit, das bevorstehende Wochenende), das nicht er selbst ist (=fremdbezüglicher oder fremdreferentieller Aspekt). In der kontinuierlichen Anknüpfung von Gedanke an Gedanke prozessieren psychische Systeme selbstreferentiell. Weil bzw. insofern es sich dabei um Gedanken über etwas handelt, impliziert die selbstreferentielle Verkettung der Gedanken zugleich Fremdreferenzen. Plausibel ist auch, daß psychische Systeme nicht in ihrer Umwelt operieren, sich z.B. nicht in andere Bewußtseine oder eine gerade laufende Interaktion ‚hineindenken‘ können.“[23]

Somit deutet sich an, wie der Reproduktionsbegriff des selbsterzeugenden Systems gefasst werden kann. Systeme reproduzieren sich selber: Ein Gedanke produziert Gedanken. Dennoch wirft diese Begriffsübertragung in der alltäglichen Handhabung Fragen auf: Wie kann sich ein System innerhalb einer Gesellschaft selbst reproduzieren?

Die Antwort lautet: Durch Einflüsse von außen (Siehe „Programme“ und „Codierung“). Diese werden jedoch nicht einfach in ein System aufgenommen. Sie erzeugen, ähnlich dem psychischen System, Eindrücke, welche Irritationen auslösen.[24] Gesellschaftliche Systeme reagieren durch „Strukturelle Kopplung“ auf diese Umwelteinflüsse.

3. Strukturelle Kopplung

Abbildung 5‑2: Strukturelle Kopplung zwischen 3 ausgewählten Systemen [25]

Die „Strukturelle Kopplung“ beschreibt die Operation, welche ein Reagieren des Systems auf die Umwelt und damit einhergehend, auf andere Systeme ermöglicht.[26] „Irritationen“ eines Systems werden in der Umwelt produziert, allerdings muss eine „Störquelle“ identifiziert werden, damit diese wahrgenommen werden kann.[27] Irritation kann nämlich nur über die Enttäuschung einer Erwartung entstehen, da das System in diesem Augenblick mit etwas rechnet, dass nicht eintritt.[28] Die dann entstehende Irritation wird z. B. von „Programmen“ verarbeitet und letztendlich damit zu einem systeminternen Ereignis werden.[29] Kluba illustriert dies an einem Beispiel:

„Im System der Politik werden Steuern erlassen, die das Wirtschaftssystem dazu veranlassen, seine eigenen Operationen nach neuen Kriterien auszurichten. Die Ökologische Steuerreform bspw. war eine Reform, die innerhalb des Systems Politik mit der Codierung Macht/keine Macht entstand. Das politische System gibt allgemeingültige Vorgaben, die (auch) das Wirtschaftssystem betreffen. Dies wird von der Steuerreform irritiert und ändert seine Programme. Es wird versucht in Produktionsprozessen Energie zu sparen, weil diese teurer geworden ist und die Entwicklung energiesparender Technologien (bspw. Autos) wird lohnenswert, da ein entsprechender Absatz zu erwarten ist.“[30]

Allein dieses Beispiel lässt sich in beliebiger Weise ausweiten und zeigt auf, wie sich die Verknüpfung einzelner gesellschaftlicher Funktionssysteme in unserer Alltagswahrnehmung manifestiert. Damit soll nun auch die grundsätzliche Beschäftigung mit den Strukturen der Systemtheorie beendet werden. Im folgenden Teil soll das System der Massenmedien in den Fokus gerückt werden, um der Einordnung des Internet in das systemtheoretische Framework einen Schritt näher zu kommen.

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[1] Schützeichel, Rainer 2003: Sinn als Grundbegriff bei Niklas Luhmann. Frankfurt am Main: Campus Verlag: S. 51

[2] Luhmann 1984: S. 37

[3] vergl. Luhmann 1984: S. 16

[4] vergl. Kluba 2002: S. 23

[5] ebd.

[6] vergl. Schneider 2009: S. 331

[7] Schneider 2009: S. 330 f.

[8] vergl. ebd.: S. 331

[9] ebd.: S. 331

[10] vergl. ebd.: S. 333

[11] ebd.

[12] ebd.

[13] vergl. ebd.

[14] ebd.

[15] ebd.: S. 340

[16] Krause 2001: S. 45

[17] ebd.

[18] vergl. Kluba 2002: S. 25

[19] vergl. Krause 2001: S. 43 f.

[20] Krause 2001: S. 53

[21] vergl. Krause 2001: S. 53

[22] Schneider 2009: S. 273

[23] ebd.: S. 274 f.

[24] vergl. ebd.: S. 276

[25] Löser, C. 2005: Systemtheorie_Luhmann.png  In: Wikipedia 2012: Strukturelle Kopplung. (25.05.2012)

[26] vergl. Kluba 2002: S. 30

[27] vergl. ebd.

[28] vergl. ebd.

[29] ebd.

[30] ebd.: S. 31