2.6 Politische Massen und die Demokratie

Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit den politischen Implikationen, die sich durch Massenkommunikationsphänomene wie Internet-Tsunamis ergeben. Grundlegend geht es dabei um die Frage der Auswirkungen auf Politik und Demokratie.

Repräsentativität

Für eine politische Bewertung stellt sich zunächst die Frage der Repräsentativität solcher Massenphänomene, inwiefern artikuliert sich hierbei die Mehrheit der Bevölkerung oder entsteht nur der gut inszenierte Schein und in Wirklichkeit schaffen sich Partikularinteressen unter dem Mantel einer vorgetäuschten Bürgerbewegung lautstark Gehör?

Einer der Interviewten meinte hierzu, wenn sich 100.000 Bürger über ein Thema echauffieren, muss man sich die Frage stellen, ob es sich hierbei um das wirkliche Abbild einer weit verbreiteten Sorge handelt oder ob dies eine mobilisierte sozio-demographische Gruppe ist, die bestimmte politische Überzeugungen vertritt und die Meinungshoheit über ein Thema gewinnen möchte. Wenn Demokratie bedeute, dass am Ende eine Mehrheit entscheide, dann muss man sich immer fragen, ob die jeweilige Gruppierung auch die Mehrheit abbildet.

Ein anderer Interviewpartner führte aus, was im Netz passiert, sei nicht repräsentativ, da dürfe man sich als Politiker nicht verleiten lassen, denn wer im Netz laut ist, sei oft nicht in der Mehrheit. Stuttgart 21 sei ein gutes Beispiel, laut der überwiegenden Mehrheit im Netz hätte der Bürgerentscheid deutlich gegen einen Bau des Bahnhofs Stuttgart 21 ausfallen müssen. Zieht man hieraus nun den Schluss, das Netz nicht mehr ernst zu nehmen oder folgt daraus, dass man die Stärken des Internets nutzt, um Bürger qualitativ besser einzubinden? Natürlich gelte es wahrzunehmen, dass auch das Internet nur einen Teil der Gesellschaft erreiche, viele Leute seien weder auf Facebook noch Twitter unterwegs, manche gar überhaupt nicht im Internet. Deshalb dürfen sich politische Beteiligungsangebote niemals nur auf diese Plattformen bzw. rein auf das Internet reduzieren. So würde man zwangsläufig Personen ausschließen und dies sei per se undemokratisch. Vor diesem Hintergrund sei auch der Begriff der Öffentlichkeit zu bewerten. Es handle sich hierbei sehr wohl um eine politische Öffentlichkeit, allerdings eben nur für diejenigen, die mit den technischen Mitteln umgehen können und sich darin bewegen. Angebote nicht zu nutzen, genauso wie nicht wählen zu gehen, sei ein demokratisches Grundrecht, welches jedem Bürger zustehe.

Ein dritter Interviewteilnehmer vertrat eine deutlich progressivere Meinung, zu glauben die Netzgemeinde bestünde aus einer völlig elitären Schicht, halte er für eine krasse Fehleinschätzung. Heute seien mehr als 99 % der unter 20-jährigen im Internet unterwegs, „nichts haben junge Leute in diesem Alter mehr gemein“, so der Interviewte. Die Netzgemeinde und die Bevölkerung würden im Laufe der Zeit deckungsgleicher werden, aber natürlich werde es immer Meinungsführer geben. Wenn in einer Woche gegen ACTA 1,5 Millionen Unterschriften gesammelt werden, dann sei dies definitiv ernst zu nehmen und habe auch eine politische Bedeutung.

Bezüglich der Repräsentativität müsse man sich vielmehr die Frage stellen, wie repräsentativ der Deutsche Bundestag sei, so ein weiterer Interviewter. Wie viele Abgeordnete haben einen Migrationshintergrund oder Harz-IV-Erfahrungen? Die Untersuchung einer der parteinahen Stiftungen habe ergeben, dass in den 80 größten deutschen Städten, die Abgeordneten in den Stadtparlamenten nur zu 4 % einen Migrationshintergrund haben, im Vergleich zu einer Ausländerquote an der Bevölkerung derselben Städte von ca. 20 %. Das Schlagwort Repräsentativität sei meistens völlig fehl am Platz, man sehe dies an der Besetzung der Parlamente ebenso, wie an der Berichterstattung der Leitmedien, diese seien ebenso wenig repräsentativ. Selbst Wahlen seien nur bedingt repräsentativ, wohl könnten sich theoretisch alle wahlberechtigen Bürger beteiligen, de facto gehen aber die schlechter gebildeten, aus niedrigeren Einkommensschichten nicht zur Wahl und sind damit unterrepräsentiert.

Nichtsdestotrotz müsse man sich demokratietheoretisch mit dieser Problemstellung auseinandersetzen. Die Frage, wer sich überhaupt beteiligt bzw. beteiligen kann, sei genauso wichtig wie auch die Frage möglicher Manipulationspotenziale. Natürlich gebe es bevorteilte Gruppierungen auf Basis finanzieller, technischer oder Wissensressourcen. Das Internet trage nicht dazu bei, mehr Bürger in demokratische Prozesse einzubeziehen, wohl kann es aber die Qualität der Beteiligungsprozesse steigern.

Wiederum ein weiterer Interviewter meinte, er glaube nicht daran, dass das Internet die Grenzen der Kommunikation in der Vertikalen grundlegend verschieben könne. Die direkte Kommunikation zwischen Politiker und Bürger werde sich nicht grundlegend ändern, auch durch Twitter reden Politiker immer nur mit einem kleinen nichtrepräsentativen Teil der Bevölkerung. Die Nichtrepräsentativität der digitalen Medien sei naturgegeben. Im Hinblick auf politische Gleichheit führen soziale Netzwerke eher noch zu einer verstärkten Ungleichheit. Twitter mache diejenigen kommunikationsmächtig, die schon kommunikationsmächtig sind. Entscheidend für die Demokratie sei aber etwas anderes, der politische Diskurs würde bei denjenigen stattfinden, die an ihm teilnehmen und wenn dieser Diskurs mit mehr Teilnehmern und einer gesteigerten Qualität geführt werden kann, dann mache dies sehr wohl einen bedeutenden Unterschied. Repräsentativität sei selten wirklich relevant, denn es handle sich eigentlich immer um Partikularinteressen. Die entscheidende Frage sei viel mehr, wie sich eine Agenda erstellt, welche Gruppen hinter der Artikulation bestimmter Meinungen stehen bzw. wie groß diese sind und woher sie kommen? Aus einer historischen Perspektive sei die Repräsentation viel entscheidender als die Repräsentativität. Denn die kommunikativen Möglichkeiten der jeweiligen Zeit (Buchdruck, Radio, Fernsehen, Internet) entscheiden über die Repräsentation von Entscheidungen und Entscheidern. Vor diesem Hintergrund ist die Demokratie, wie wir sie kennen überhaupt nur ein medienhistorisches Produkt.

Insgesamt scheinen die Positionen der Interviewten sehr divergent. Einer der Interviewpartner resümierte passend, man solle immer eine grundlegend kritische Position gegenüber den Möglichkeiten von Kommunikationsmedien für die Demokratisierung einnehmen, denn letztlich sind dies nur Instrumente und es komme darauf an, wie und von wem diese genutzt werden. In den Anfangsjahren des Internets war die Grundstimmung zu den Potenzialen des Internets für die Demokratie übertrieben positiv und teils utopisch, heute herrscht dagegen viel Skeptizismus. Das Internet sei aber weder inhärent demokratisch noch repressiv oder undemokratisch, es sei inhärent ein Instrument zur Kommunikation.

Legitimation

Mit Bezug auf die Legitimation von Massenkommunikationsphänomenen antwortete einer der Interviewten, demokratisch legitimiert seien Meinungsimpulswellen im Internet mit Sicherheit nicht. Demokratisch im Sinne einer Meinung unter vielen und der legitimen Äußerung dieser Meinung allerdings schon, so lange das Geäußerte keinen Anspruch auf Wahrheit, Wirklichkeit oder Repräsentativität erhebt. Dabei sei das Internet als Infrastruktur diskriminierungsfrei, denn sowohl Experten als auch Otto Normalbürger können hier gleichmaßen publizieren. Was die Legitimation für politische Entscheidungen angehe, so liege diese letztendlich bei den gewählten Repräsentanten. Allerdings fange die Bevölkerung an, die Legitimation der Politik in Frage zu stellen. Dies könne zu einer Legitimationskrise führen, die möglicherweise in eine Unregierbarkeit münde. Tea Party und Wutbürger zeigen im Subtext die Aufkündigung der Demokratie, auch wenn Entscheidungen demokratisch legitimiert sind, werden diese trotzdem nicht angenommen. Der Glaube bzw. die Akzeptanz von Repräsentanten als Volksvertreter werde zunehmend in Frage gestellt.

Ein anderer Interviewpartner erklärte, wenn man daran glaube, dass ein essentielles Prinzip von Demokratie lautet, alle Stimmen sollen gehört werden, dann sei jegliche Art von Massenbewegungen legitimiert, so lange sie friedlich ablaufen. Wie repräsentativ diese dann sind, hänge von den jeweiligen Umständen ab. Es gebe gerade eine Grundtendenz, nach der die Meinung des Volkes, im Sinne einer kollektiven Intelligenz sehr wichtig genommen werde. Deshalb würde der Druck zukünftig mehr Mitglieder- und Bürgerentscheide (siehe Stuttgart 21) einzuplanen weiter steigen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, Massenkommunikationsphänomene im und aus dem Internet sind wohl nicht repräsentativ, aber bedeutend, nicht demokratisch legitimiert aber durchaus legitim und jede Bewegung jeglicher Art ist mit ihrer Artikulation erst einmal ernst zu nehmen.

Diskursivität und Kommunikationsräume

Diskursfähigkeit sei die Grundlage für demokratische Entscheidungen. Das Internet könne durch seine basisdemokratische Struktur, bei der alle die gleichen Informationen einsehen können, Diskurse fördern. Das jeder Mensch am politischen Diskurs teilhat, sei allerdings nicht vorstellbar, egal, welche kommunikativen Mittel zu Verfügung stehen, weil a) eine mangelnde Skalierbarkeit bestehe. Es sei kaum vorstellbar, dass mehr als eine Millionen Menschen gleichzeitig im Internet miteinander kommunizieren würden. b) Eine mangelnde Bereitschaft zur Beteiligung bestehe, der allzeit politisch aktive Bürger sei ein Trugschluss. Und c) eine Komplexitätsdiskrepanz bestünde, nach der es nicht möglich sei, dass eine breite Bürgerschaft an fachlich komplexen und tiefgehenden Themenfeldern arbeite bzw. diese sich im Umkehrschluss nicht auf ja/nein-Lösungen reduzieren lassen.

Dies bedeute allerdings nicht, dass sich nicht neue Beteiligungsformate und –möglichkeiten entwickeln, ganz im Gegenteil seien neue Diskursräume und Beteiligungsplattformen im Entstehen, so mehrere der Interviewten. Die große Frage, die dabei bestehe sei, in wie fern ein Mit- und Einwirken der Bürger reale Auswirkungen auf Politik entfallen könne oder ob die Beteiligung nur zu einer Partizipationsillusion verkomme. Die jüngere Generation an Politikern glaube wirklich an die Chancen der Bürgerbeteiligung durch das Internet, allerdings werde es immer auch Partizipationsangebote aus reinen PR-Gründen geben, wie dies zum Beispiel der Dialog der Kanzlerin sei, so einer der Interviewten. Nehmen die Partizipationsangebote überhand, die keinen echten Dialog erzeugen, so bestünde die Gefahr eines weiteren Vertrauensverlusts.

Alle neueren Beteiligungsformate müssen sich erst einmal der Debatte stellen, ob deren Beteiligungszahlen ausreichend seien. Die Beteiligung falle dabei, im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung gering aus. Dennoch müsse man zum einen berücksichtigen, dass die Beteiligungshürden bei Wahlen denkbar gering seien (ja/nein Stimme), je diffiziler ein Thema sei, desto mehr Vorwissen und Zeitressourcen müssen die Beteiligten dann mitbringen. Dementsprechend sinke die Grundgesamtheit an potenziellen Beteiligungskandidaten. Zum anderen gebe es keinen Zwang politisch aktiv zu werden, weder im Internet noch in der Offline-Welt. Dies habe sich durch das Internet nicht geändert, es werde nur sehr viel deutlicher, wenn sich Bürger nicht im großen Maße beteiligen. Dementsprechend gebe es unterschiedliche Instrumente (engl. Tools) für unterschiedliche Beteiligungsformen. Auf einer Skala verortet sei an einen Ende ein einfaches und niedrigschwelliges Beteiligungsangebot, mit dem man eine breite Masse der Bevölkerung ansprechen kann (Wahlen) und am anderen Ende eine tiefe, detaillierte, themenintensive Diskussion, die eben nur ein kleinerer Teil der Bevölkerung mitgestalten kann und mitgestalten möchte (Bürgerexperten Crowdsourcing).

Erste Formate finden Eingang in den Politikprozess, so ernannte die Enquete Kommission Internet und digitale Gesellschaft den Bürger zum 18. Sachverständigen. In der Ausschreibungsphase für die zu verwendende Software setzte sich Adhocracy gegen Liquid Feedback durch. Die Vorboten eines zukünftig bevorstehenden Kulturkampfes ließen sich hierbei erahnen, denn trotz eines parteiübergreifend einstimmigen Beschlusses für den Einsatz der Software stoppte der Ältestenrat deren Anwendung, durch das Verhängen einer Haushaltssperre. Ein Novum innerhalb der Geschichte der Enquete Kommissionen, so einer der Interviewten. Auf die Bitte der Abgeordneten und Experten kam die Software dann doch zum Einsatz, da sich die Betreiber bereiterklärten, ihr Engagement ehrenamtlich zu vollziehen. 2.500 registrierte Nutzer arbeiteten mehr oder minder intensiv am Wirken der Enquete Kommission mit. Je nach Leseart, handelt es sich hier um einen Erfolg bzw. Misserfolg. Es handelte sich in jedem Fall um einen sehr themen- bzw. fachspezifischen Beteiligungsprozess und die Zugangshürden für die Beteiligung wurden für die Anmeldung relativ hoch gesetzt. Eine breite Beteiligung der Bevölkerung war daher nicht zu erwarten. Interessant sind hierbei nicht die Beteiligungszahlen, sondern eher die Öffnung von ehemals Geheimgremien, die hinter verschlossenen Türen abgehalten wurden zu einer transparenten Berichterstattung mit Live-Übertragungen im Internet, bei der sich der Bürger potenziell beteiligen konnte. Es wird sich zeigen, ob bei einer weiteren Veränderung der politischen Kultur, die Bürgerbeteiligung innerhalb solcher Gremien deutlich steigert.

Resümierend bleibt festzuhalten, das Internet bietet nach Ansicht der meisten Interviewten die Möglichkeit, erweiterte Kommunikationsräume bereitzustellen und damit die Diskursfähigkeit innerhalb der Gesellschaft anzuregen. Inwiefern sich dadurch die Beteiligung des Bürgers an politischen Prozessen fundamental verändert bleibt abzuwarten.

Transparenz

Transparenz sei das zentrale Gut des Internets, so einer der Interviewten, denn jeder kann jedes sehen, jeder kann mit jedem kommunizieren, alle wissen theoretisch über allem Bescheid, wenn sie es denn im Internet finden. Wie tief das Internet in die Lebensrealität vieler Menschen eingedrungen sei, zeige unter anderem der Erfolg der Piratenpartei, die es schließlich geschafft habe, rein über Internetthemen eine Partei zu formieren.

Die Angst der Politiker sei dabei der Kontrollverlust und dies sei verständlich, denn es brauche Zeit, bis diese sich an die veränderten Rahmenbedingungen anpassen, so ein anderer der Interviewten. Im speziellen gelte dies für Politiker, die nicht mit dem Internet aufgewachsen sind, man müsse diesen Zeit für einen Lernprozess zugestehen. Den Eindruck, dass Politik heute verstrittener sei als früher, halte er für eine Nebenwirkung von Transparenz. In der Tat wurde immer gestritten, nur seien die diskursiven Aushandlungsprozesse heute sichtbarer als dies noch bis vor ein paar Jahren der Fall war.

Der Versuch, Transparenz über technische Mittel herzustellen, sei allerdings eng mit Bedingungen an den Datenschutz verknüpft. Dabei sei der Wunsch, Sicherheit mittels mathematischer Verfahren herzustellen, zum Scheitern verurteilt, denn man könne keine Zugriffsmöglichkeiten auf Daten schaffen und dann gleichzeitig behaupten, dass diese Zugriffsmöglichkeiten nicht bestehen. Außerdem liegen Daten immer auch unverschlüsselt vor und können dann kopiert werden, dies sei weder auszuschließen noch zu überprüfen. Die sicherste Methode Transparenz zu schaffen sei demnach nicht über technische Mittel zu erreichen, sondern über soziale Normen.

Einflüsse auf den Politikprozess

Betrachtet man den Politikprozess als ein System, so lässt sich eine Input-Seite und eine Output-Seite unterscheiden, in deren Mitte das politische System politische Entscheidungen verarbeitet. Auf der Input-Seite werden durch die Gesellschaft bzw. die Bürger Forderungen gestellt und Probleme aufgeworfen, die durch das politische System bearbeitet werden sollen. Auf der Output-Seite gehen aus dem politischen System die Entscheidungen und deren Umsetzung hervor, um dadurch in den jeweiligen Adressatensystemen (Wirtschaftssystem, Gesundheitssystem o. ä.) die intendierten Wirkungen zu entfalten.

Aus Sicht der Interviewten haben die beschriebenen Massenkommunikationsphänomene verschiedene Auswirkungen auf der Input-Seite. Die Repräsentative Demokratie werde zwar nicht abgelöst, aber die der Partizipation vorgelagerten Säulen, wie zum Beispiel die Informationsgewinnung aber auch der politische Diskurs, verändere sich. Das Engagement bzw. die Mitarbeit in Parteien, als bisher primäre Form der Beteiligung am politischen Geschehen, sei unpopulär geworden und es entwickeln sich neue Formen der Beteiligung. Dabei seien durchaus auch vermehrt plebiszitäre Elemente denkbar.

Zudem sei eine Internationalisierung von politischen Bewegungen zu beobachten, wie dies beispielsweise bei der Occupy-Bewegung oder den Anti-ACTA-Protesten zu sehen war. Besonders in Europa entwickle sich auf Bürgerebene eine neue politische Beteiligungskultur. Das Internet als Medium ermögliche eine breite Partizipation, bewirke diese aber nicht notwendigerweise. Eine Stärke des Internets liege weiterhin in der Möglichkeit zur schnellen Mobilisierung und Reaktion auf aktuelle Ereignisse. Das Internet mache es einfacher, sich zu informieren und an politischen Aktionen teilzunehmen.

Die Chance der Politik liege dabei, Anregungen aufzunehmen sowie ein schnelles Feedback zu bekommen, teilweise auch von Leuten, die sich gewöhnlich nicht an politischen Prozessen beteiligen.

Außerdem könne die Basis, auf der politische Entscheidungen getroffen werden, durch ver­schiedene Beteiligungsmechanismen, wie z. B. Experten-Crowdsourcing, verbessert werden.

Auf der Output-Seite schaffen Open-Data-Bemühungen die Möglichkeit, staatliche Entscheidungen und Daten einzusehen. Es sei sogar denkbar, dass man an einen Punkt käme, an dem Gesetze nach der ersten Lesung für einen Zeitraum von 14 Tagen für Einwände, Vorschläge, Verbesserungen und Lob der Bürger ins Netz gestellt werden, die dann wiederum in der zweiten und dritten Lesung mitberücksichtigt werden müssen. Damit könne man auch der Komplexität gerecht werden, dass heute verabschiedete Gesetze viel mehr Lebenswelten, als noch vor 50 Jahren betreffen.

Mit Blick auf den gesamten Politikprozess verändern sich die Verlaufszyklen. Politik, gesellschaftlicher Diskurs und Debattenverläufe werden schnelllebiger und vielschichtiger.

Chancen und Risiken

Internet-Technologien können Demokratiemotor sein, wenn sie es ermöglichen, Machstrukturen aufzulösen, so einer Interviewpartner. Es ist denkbar, dass Nachwuchspolitiker durch das Internet bekannt und gestärkt werden, anstatt die traditionellen und elitären Parteilaufbahnen zu beschreiten. Politik mache Fehler und Gesellschaft werde komplexer, die große Chance des Internets bestehe heute darin, mehr Akteure mit unterschiedlichen Perspektiven in den Politikprozess einzubinden.

Auf der anderen Seite halte er es für einen Trugschluss, zu denken, dass sich durch die digitalen Medien die Kommunikationsstrukturen in der Politik grundsätzlich verändern. Die Massendemokratien können durch soziale Netzwerke nicht umgebaut werden, die Idee skaliere sich nicht, denn niemand könne mit 70.000 Followern in Kontakt treten. Es ändere sich eher die horizontale Beziehung zwischen den Bürgern. Bürger können sich heute besser selbst untereinander organisieren. Der Bürger werde individueller und engagiere sich kurzfristig und themenbezogen, weniger langfristig. Diese Entwicklung habe grundlegende Folgen für die Parteienlandschaft. Waren Parteien ursprünglich zur Beantwortung und Repräsentation von Systemfragen gegründet worden, so müssen sie sich heute von Grund auf neu organisieren, um den Lebensrealitäten und Ansprüchen einer Gesellschaft im 21. Jahrhundert gerecht zu werden.

Die große Gefahr für die Demokratie bestehe darin, dass sich immer mehr Bevölkerungsteile nicht mehr durch die parlamentarischen Kompromisse repräsentiert fühlen und ausbrechen. Das Internet verstärke diese Spannungen eher als sie zu nivellieren. Ein neuer gesellschaftlicher Vertrag sei gefragt, ansonsten steigen größere Teile der Bevölkerung aus dem parlamentarischen Konsens aus.

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