1.1 Politikverdrossenheit passé

Das Jahr 2011 wird als der Beginn einer neuen, globalen Protestkultur in Erinnerung bleiben. Eine Politisierung der Gesellschaft, wie sie die Welt lange nicht gesehen hat, an Intensität und Emotionalität vielleicht vergleichbar mit dem Zusammenbruch des Ostblocks. Während des Arabischen Frühlings gehen – angefangen mit Tunesien und Ägypten – in insgesamt 17 Staaten [1] des Nahen Ostens und Nordafrikas die Menschen auf die Straßen. Israel erlebt die größten Bürgeraufkommen seiner kurzen Geschichte. Ebenso gibt es Straßenproteste in Lateinamerika, in Russland, der Ukraine und selbst Europa bleibt nicht verschont. In Spanien und Ungarn wird auf öffentlichen Plätzen kampiert, in London, Athen und Rom arten Proteste gar zu Straßenschlachten aus. Die Occupy-Bewegung besetzt neben der Wall Street weltweit Straßen und Plätze auf allen fünf Kontinenten an insgesamt fast 1.000 Orten.[2] In Folge dieser Massenphänomene erklärt das Time Magazine den Protestler zur Person des Jahres (Coverbild [3])

Etwas ist diesen Protestbewegungen gemein: Sie haben keine Gallionsfigur, keinen heroischen Anführer, sie organisieren sich aus sich selbst heraus. Wie ein Schwarm besteht die vermeintliche Stärke in der Anzahl der Mitglieder und ihrer dezentralen Organisation. Ob dieser Schwarm intelligent ist, mag dahin gestellt sein, doch welche kommunikativen Instrumente er in Zeiten von Internet und sozialen Medien verwendet, ist von wachsender Bedeutung. Noch mehr, als diese Instrumente nicht nur zur Mobilisierung politischer Massen eingesetzt werden, sondern auch neue Formen der Organisation und Kollaboration ermöglichen. Ein Beispiel für diese neuen Mechanismen lässt sich am Fall der Plagiatsaffäre Guttenberg untersuchen. Tausende „Plagiatsjäger“ organisieren und koordinieren sich über das Internet und fanden so innerhalb von einer Woche über 300 Plagiatsstellen in der Doktorarbeit des damaligen Außenministers. Damit wird klar, auch in Deutschland besteht eine neue Einflussgröße, die auf Politik einwirkt.

Waren die Nullerjahre des neuen Jahrtausends von Politikverdrossenheit geprägt, scheint es, dass die Gesellschaften der westlichen Demokratien gerade eine Repolitisierung erfahren. Allerdings werden für die politische Artikulation neue Kanäle verwendet, denn die Akzeptanz der traditionellen Beteiligungsformen nimmt kontinuierlich ab. In der Bundesrepublik Deutschland sinkt die Wahlbeteiligung bei den Bundestagswahlen seit 1953 stetig, von einem Höchststand 1972 mit 91,1 % auf einen historischen Tiefstand 2009 von 70,8 % (Abbildung 1‑1). Zieht man Landtags- und Europawahlen hinzu fällt eine Statistik noch deutlich negativer aus.

Abbildung 1-1: Wahlbeteiligung in der BRD von 1953 bis 2009 [4]

Ein ähnlich negativer Trend lässt sich im Parteienengagement beobachten. So verzeichnen alle im Bundesparlament vertretenen Parteien, ausgenommen der Grünen, seit 1990 einen stetigen und beträchtlichen Mitgliederschwund. Abbildung 1‑2 zeigt prozentuale Veränderung von Parteienmitgliedschaften in einem Zeitraum von 1990 bis 2010, ausgehend von einen Basiswert 1990.[5]

Abbildung 1‑2: Veränderung der Parteienmitgliedschaft von 1990 bis 2010 [6]

Ein wachsendes Misstrauen gegenüber den traditionellen politischen Institutionen und Funktionsträgern ist zu vermuten. Dies bereitet den Nährboden für neue Artikulationsformen aber auch Protagonisten.

Bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin am 18. September 2011 zieht erstmals mit 8,9 %, für viele überraschend, die Piratenpartei in ein deutsches Parlament ein. Schon ein halbes Jahr später scheint sich die junge Partei einen festen Platz in der Parteienlandschaft der Bundesrepublik Deutschland gesichert zu haben. Sie zieht in die Landesparlamente des Saarlands, Schleswig-Holsteins sowie Nordrhein-Westfalens ein. Wie keine andere Partei haben es die Piraten geschafft, ein Thema zu besetzen, welches den Puls der Zeit zu treffen scheint: Transparenz. Die Blackbox des Politikprozesses stößt bei den Bürgerinnen und Bürgern verstärkt auf Unverständnis und Unmut. Die Bürgerinnen und Bürger wünschen sich Beteiligungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten. Unklar ist jedoch, wie diese ausgestaltet sein sollten. Eines steht allerdings fest, die tradierten Beteiligungsformate scheinen die Bedürfnisse vieler Bürgerinnen und Bürger nicht mehr ausreichend zu befriedigen.

Bei den neuen Artikulationsformen spielt das Internet eine immer wichtigere Rolle. 2011 ist das Internet in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Immerhin 73,3 %, das sind 52 Millionen Bundesbürger, sind laut ARD/ZDF-Onlinestudie 2011 online. Damit stellt Deutschland den größten europäischen Internetmarkt. Nicht übersehen sollte man dabei aber auch den Umkehrschluss, dass 26,7 % der deutschen Bevölkerung das Internet gar nicht nutzen. Damit liegen wir im europäischen Vergleich im oberen Mittelfeld. Führend sind die skandinavischen Länder und die Niederlande mit einer Internetdurchdringung von 90 %, also 9 von 10 Bürgern.[7]

Ein weiteres Merkmal spricht für die gestiegene Bedeutung des Internets. Dieses beeinflusst gesellschaftliche Kommunikation wie auch Meinungsbildung durch die Nutzung sozialer Medien, sog. Web-2.0-Angebote. Menschen vernetzen sich über das Internet, produzieren Inhalte, kommunizieren und informieren sich untereinander. 45 % der Internetnutzer in Deutschland sind bei einem sozialen Netzwerk angemeldet. Weit an der Spitze steht mit 22,1 Million aktiven Nutzern Facebook, Stand 01.01.2012.[8] 58 % der Internetnutzer schauen sich Videos auf YouTube und anderen Videoportalen an, 18 % nutzen Fotoportale und 7 % betreiben oder informieren sich über sog. Weblogs.[9]

Doch Vorsicht ist bei allzu optimistischen Interpretationen dieser Zahlen geboten. Aus Internetnutzung folgt nicht gleich politische Beteiligung. Ganz im Gegenteil: Das Netz wird vorwiegend für private und wirtschaftliche Belange genutzt. Der im Netz politisch aktive Teil scheint weitaus kleiner. „Die sogenannte ‚Mobilisierungsthese‘, nach der es durch das Internet in nennenswertem Umfang gelingen könnte, bisher uninteressierte Menschen für Politik zu interessieren, gilt als widerlegt“.[10]

Die Auswirkungen auf Politik sind dennoch real, denn das Internet erleichtert „als Kommunikations- und Protestmedium einerseits die Organisation klassischer Protestformen und ermöglicht andererseits die Erweiterung des Protestrepertoires hin zu Online-Protestformen.“[11] Aber das Internet führt noch zwei weitere grundlegende Veränderungen mit sich. Zum einen ist festzustellen, dass global heute lokal ist, sprich die Welt rückt näher zusammen, denn die Netzwerkgesellschaft ist eine globale Gesellschaft. Obwohl dies nicht gleichzusetzen ist mit der Teilhabe Aller an diesem globalen Netzwerk, sind Auswirkungen, Einflüsse und Durchdringung dieser Entwicklung bis in alle Gesellschaftsschichten spürbar. [12] Bilder, Meldungen und Informationen [13] gehen schneller um die Welt und erreichen zeitgleich selbst entlegene Ortschaften. Dies führt verstärkt zu sog. Ansteckungseffekten (engl. spill-over effects), in dem Informationen, Bewegungen und Proteste über geografische, nationalstaatliche und kulturelle Grenzen hinweg Impulse setzen können. Zum anderen führt die Nivellierung der Produktions- und Publikationskosten zu einer grundlegenden Veränderung der Rahmenbedingungen, aus Konsumenten werden Produzenten, aus Nachfragern Anbieter, aus Empfängern Sender. Diese Entwicklung scheint eine Machtverschiebung zur Folge zu haben, Massenkommunikation verändert sich und ermöglicht fortan multidirektionale Informationsverbreitung von Vielen-zu-Vielen, in Echtzeit oder Zeit unabhängig, interaktiv und multimedial. Kontrollausübung von staatlichen Akteuren wird dabei in zunehmendem Maße schwierig.

So zeigt sich weltweit, dass unterschiedliche autoritäre Regime immer wieder Schwierigkeiten haben, die absolute Kontrolle über den Informationsfluss herzustellen. Die eigene Bevölkerung informiert sich untereinander über Blogs, durch Videoportale und baut Brücken nach außen zu internationalen Journalisten oder der im Ausland lebenden Diaspora. Die daraus gewonnene Hoffnung führt zur Rückkopplung, setzt Impulse für die Massenbildung im Inland und erschwert den Regimen die Isolation von Menschen bzw. die Zensur von Informationen.

Die Grundbedingung, die diese Prozesse der kommunikativen Verbreitung ermöglicht, ist die Digitalisierung der Gesellschaft.

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[1] Ägypten, Algerien, Bahrain, Dschibuti, Irak, Jemen, Jordanien, Kuwait, Libyen, Marokko, Mauretanien, Oman, Palästinensische Gebiete, Saudi-Arabien, Sudan, Syrien, Tunesien

[2] vergl. Süddeutsche Zeitung online (o. V) 15.10.2011: Occupy-Protestwelle weltweit. (20.12.2011)

[3] Time online (Andersen, Kurt) 14.12.2011: Time Cover Story: The Protester. (20.12.2011)

[4] Der Bundeswahlleiter 2010: Bundestagswahlen (Statistik) (17.02.2012)

[5] vergl. Niedermayer, Oskar (2011): Parteimitglieder in Deutschland: Version 2011. (14.02.2011)

[6] ebd.

[7] vergl. Van Eimeren, Birgit und Frees, Beate 2011: Drei von Vier Deutschen im Netz – eine Ende des digitalen Graben in Sicht?: Ergebnisse der ARD/ZDF-Onlinestudie 2011. (17.02.2012)

[8] vergl. allfacebook (Roth, Philipp) 2012: Facebook Nutzerzahlen 2012 in Deutschland und Weltweit. (17.02.2012)

[9] vergl. Busemann, Katrin und Gscheidle, Christoph 2011: Web 2.0: Aktive Nutzung bleibt auf niedrigem Niveau: Ergebnisse der ARD/ZDF-Onlinestudie 2011. (17.02.2012)

[10] Eisel, Stefan 2011: Internet und Demokratie. Freiburg im Breisgau: Herder: S. 50 – 57

[11] März, Annegret 2010: Mobilisieren: Partizipation – Vom „klassischen Aktivismus“ zum Cyberprotest. In: Baringhorst/Kneip/März/Niesyto: Unternehmenskritische Kampagnen: Politischer Protest m Zeichen digitaler Kommunikation (Bürgergesellschaft und Demokratie), Wiesbaden: VS Verlag, S. 222

[12] vergl. Castells, Manuel 2010: The Rise of the Network Society. The Information Age: Economy, Society and Culture Volume I. Second edition, West Sussex: Wiley-Blackwell Publishers

[13] So schreibt Frank Patalong, Leiter der Netzwelt von Spiegel Online, am 16.01.2009: „Es war eine Sternstunde für Twitter, den seltsamen Kurznachrichtendienst: Viel schneller als über die professionellen Medien verbreiten sich dort erste Informationen und Fotos über die Notlandung eines Airbus auf dem Hudson River.“ In: SPIEGEL ONLINE: Da ist ein Flugzeug im Hutson River. Verrückt. (10.02.2012)