2.5 Aufmerksamkeitssteuerung: Campaigning, Aktivismus und Manipulation

Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit der Nutzung von Internet-Technologien zur Massenmobilisierung und Aufmerksamkeitssteuerung. Dabei werden die zugrundeliegenden Mechanismen thematisiert, hinterfragt und bewertet.

Mechanismen des Campaigning

Viele der Interviewten machten darauf aufmerksam, dass die Mobilisierung von Massen im Internet oftmals durch Kampagnenstrukturen erfolgt. Mit anderen Worten, Menschenmassen finden sich meist nicht spontan und zufällig zusammen, sondern werden bewusst aktiviert. Akteure platzieren bestimmte Themen, die sie für wichtig erachten und versuchen, um diese herum Aufmerksamkeit zu generieren. Dabei haben sich bestimmte Muster und Mechanismen bewährt, die unter dem Begriff Campaigning zusammengefasst werden können. Laut eines Interviewten gebe es grundsätzlich keine großen Unterschiede zwischen Online- und Offline‑Kampagnen, die verwendeten Mechanismen seien die gleichen. Allerdings sei die Glaubwürdigkeit bei Online-Medien tendenziell geringer als bei Offline-Medien. Das Internet habe dabei zu zwei Entwicklungen beigetragen: Zum einen seien Kampagnen sehr viel einfacher und kostengünstiger geworden und zum anderen könne man Manipulationen leichter durchschauen, denn Sachverhalte lassen sich im Internet leichter überprüfen. Außerdem würden sich im Verdachtsfall schnell viele Leute zusammen finden, die sich mit überprüfenden Recherchen beschäftigen (siehe hierzu auch die Fallstudie zur Plagiatsaffäre Guttenberg: Kapitel 3.1).

Grundsätzlich gehe es im Campaigning immer darum, mit einer Aktion eine Reaktion zu bewirken. Ziel sei es, Bewegung in ein Thema zu bekommen. Das klassische Vorgehen innerhalb einer Kampagnenstruktur sei dabei emotional aktivierende Bilder zu erzeugen und saubere O-Töne festzuhalten. Beide zusammen können es dann in die Nachrichten schaffen und damit breitenwirksam Aufmerksamkeit auf ein Thema lenken.

Emotionalisierung ist dabei eine der wichtigsten Komponenten. Wenn ein Thema Menschen bewegt, werden sie automatisch aktiv, engagieren sich, verbreiten die Nachricht weiter und mobilisieren so weitere Personen: eine Masse entsteht. Der Spaßfaktor spielt bei der Beteiligung eine zunehmend wichtigere Rolle, so einer der Interviewten. Dem würde durch Gamification-Ansätze in Kampagnen Rechnung getragen, d. h. Kampagnen haben ähnliche Strukturen, wie sie aus Computerspielen bekannt sind. Eingeübte Muster wie das Lösen von Missionen bzw. Quests werden mit einem Community-Ansatz zusammen gebracht, so dass Kollektivstrukturen und -motivationen entstehen können.

Es sei grundsätzlich problematisch, Nutzer zum Mitmachen zu animieren, wenn sie nicht an etwas interessiert sind. Es müssen also immer einfache Andockstellen geschaffen werden, um Menschen an ein Thema heranzuführen. Hierfür werden dann unter anderem die Social-Media-Kanäle (Facebook, Twitter, YouTube etc.) strategisch eingesetzt. Social Media dient dabei nicht nur als Kommunikationstool, sondern insbesondere auch zur Verknüpfung von On- und Offline-Kommunikation. Gruppen organisieren und verabreden sich online, um offline Aktivitäten zu planen und durchzuführen. Reine Online-Kampagnen hätten keine Aussichten auf Erfolg, ein Mediensprung ist zwingend notwendig für eine durchschlagende Kampagne. Ansonsten werde „nur die Sau durch Dorf getrieben“, so einer der Interviewten.

Zensur sei dabei ein probates Mittel um Aufmerksamkeit zu generieren. Wenn Inhalte zensiert werden, gebe es im Internet immer einen Aufschrei, egal um welches Thema es ich handelt (siehe hierzu den Fall Nestlé Kitkat). Dabei sei es für Kampagnenmacher oft ein schmaler Grat, zwischen dem Provozieren einer Reaktion und der bewussten Meinungssteuerung. Wird eine bewusste Manipulation durch Internetnutzer aufgedeckt, so führt dies unweigerlich zu einem Reputationsverlust und Imageschaden für die Marke. Dabei entscheidet die Glaubwürdigkeit der Marke oft darüber, ob Meldungen weitergeleitet werden oder nicht und bildet damit das „Grundkapital“, welches möglicherweise gefährdet wird.

Cyberwar: Anonymous und Co.

Eine andere Form des Aktivismus machte die letzten Jahre medial auf sich aufmerksam: Das Hacken. Ein Phänomen, welches in der Berichterstattung in direkten Zusammenhang mit Gruppierungen wie Anonymous, LulzSec und AntiSec gestellt wurde. Es handelt sich hierbei um anonyme Hackerkollektive, die mit Einbrüchen in Softwaresysteme auf Sicherheitslücken in Netzwerken aufmerksam machen bzw. durch DDoS- Attacken (Distributed-Denial-of-Service) Webseiten Überlasten und dadurch blockieren. Bekannt wurde insbesondere Anonymous durch deren Proteste gegen Scientology sowie Angriffe auf die Kreditkartenunternehmen Visa und MasterCard, da diese zuvor der Whistleblowerplattform WikiLeaks den Zugang zu deren eigenen Konten gesperrt hatten. Weitere Attacken wurden auch auf autokratische Regime in Tunesien, Simbabwe und Syrien geführt, aber auch gegen den Playstation-Hersteller Sony, nachdem dieser einige Hacker für die Preisgabe von Informationen zu Kopierschutzfunktionen verklagte.

Während einige der Interviewten die Aktionen der Hackerkollektive eher als zivilen Ungehorsam und damit als legitime Protestform bewerteten, sahen andere dies als Ausnutzung technologischer Mittel zur Durchsetzung von Partikularinteressen. Im Sinne einer ernsthaft operierenden Organisation mit klar artikulierten politischen Zielen sei Anonymous, LulzSec oder AntiSec keine große Bedeutung beizumessen. Es wurde darauf hingewiesen, dass es Politiker gebe, die bei solchen Bewegungen von Terrorismus sprechen.

Interessant an diesem Phänomen seien aber weniger die Aktionen an sich, als vielmehr die Sympathiebekundungen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen, so einer der Interviewten. Die teils wohlwollende Rezeption komme zum einen aus dem Robin-Hood-Klischee, der Möglichkeit, das einzelne Bürger Staaten und Konzerne immerhin kurzzeitig die Stirn bieten können und zum anderen aus dem Unbehagen einiger Bevölkerungsschichten mit der Sammlung persönlicher Daten durch privatwirtschaftliche Unternehmen. Eine gewisse Verwandtschaft mit einer neuen globalen Protestkultur sei hier zu beobachten.

Manipulation und Astroturfing

Bis zu welchem Grad ist eine Kampagne eine legitime Vertretung von Partikularinteressen und ab wann werden Aktionen manipulativ? Eine klare Antwort scheint schwierig, die Interviewten waren sich hier nicht einig. Fakten so darzustellen, dass sie nicht mehr der Wahrheit entsprechen, könnte eine mögliche Definition von Manipulation sein. Aber wie sieht es mit Aktionen aus, bei denen die Initiatoren bewusst im Verborgenen bleiben? Die Absicht ist sichtbar, die Akteure agieren jedoch aus dem Verborgenen. Ein Phänomen, das unter dem Begriff Astroturfing firmiert. Astroturfing bedeutet „Kunstrasenbewegung“, also die Herstellung einer vermeintlichen Graswurzelbewegung, bei der Bürgerinteressen artikuliert werden, die allerdings im Ursprung nicht von Bürgern, sondern von beauftragten PR-Agenturen und anderen Organisationen angestoßen werden. Auch hier ist in der Praxis oft keine saubere Trennung möglich, d. h. eine Bewegung kann mittels Astroturfing angestoßen werden, entwickelt sich dann jedoch zu einer echten Bürgerbewegung, von der die Beteiligten überzeugt sind, dass sich die Bewegung aus ihnen selbst heraus entwickelt hätte.

Gerade hier zeigt das Internet eine hohe Anfälligkeit, so einer der Interviewten. Die Medienberichterstattung kann über das Internet zusätzlich gesteuert werden, zum Beispiel durch fingierte Augenzeugenberichte, Videos, Blog-Beiträge und vermeintlich authentisches Bildmaterial, welches durch Nutzer generiert wurde.

Einer der Interviewten erwähnte das Beispiel der Deutschen Bahn, die berlinpolis, eine inzwischen aufgelöste Berliner Denkfabrik, im Zuge der Bahnprivatisierung mit versteckter Lobbyarbeit auf Basis von Meinungsumfragen, Leserbriefen, Beiträgen in Online-Foren und Blogbeiträgen beauftragte. Bei diesen Inhalten waren weder Urheber noch Auftraggeber ersichtlich.

Öffentliche Meinung wurde schon immer manipuliert, allerdings werden die Methoden und Technologien ausgefeilter und Bürger gerade im Internet leichtgläubiger, so ein anderer der Interviewpartner. Organisierte und finanzkräftige Interessensgruppen machen sich diese Entwicklung gezielt zu nutze. Heute könne man sich ohne Probleme 5.000 Freunde bei Facebook kaufen oder über Botnetze ganze Armeen an vermeintlichen Internetnutzern steuern. Den Ausgangspunkt einer Initiative klar zu verorten, sei in diesen Fällen nahezu unmöglich.

Agenda-Setting für Jedermann?

Neben Gefahren der Manipulation ergeben sich durch das Internet und die Neuen Medien auch neue Möglichkeiten. So bekommen heute zum Beispiel mehr Menschen die Möglichkeit Themen auf der öffentlichen Agenda zu platzieren. Alte Agenda-Setter verlieren dabei nicht an Bedeutung, die Grundanzahl an potenziellen Agenda-Settern erhöht sich aber deutlich. Die Zahl derer, die Agenden setzen können, hat deutlich zugenommen. Eine solche Entwicklung geht damit einher, dass es eine noch größere Anzahl an verschiedensten Gruppierungen gebe, die jeweils mit unterschiedlichen Agenden adressiert werden können. Zudem sei das Modell einer Agenda für die große politische Öffentlichkeit überholt. Heute gebe es viele Agenden, für viele politische Teilöffentlichkeiten. Dies mache die Lage natürlich unübersichtlicher wie auch eine klare politische Meinungsbildung zunehmend komplizierter werde. Der Einfluss des Internets auf politische Prozesse wird deutlich und wird im folgenden Kapitel vertieft.

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