2.2 Analogien zwischen realen und Internet-Tsunamis

In diesem Kapitel wird das natürliche Phänomen Tsunami betrachtet, um anschließend Ableitungen für die Übertragung des natürlichen Phänomens auf die virtuelle Welt zu ermöglichen.

Wodurch sind Tsunamis gekennzeichnet?

Tsunamis entstehen im Meer und haben als Ursache meist Erdbeben, Vulkanausbrüche oder Hangabrutschungen.[1]

Das heißt:

  • Es gibt ein lokal begrenztes Ereignis als Ursache (Epizentrum).
  • Tsunamis brauchen Wasser, um sich auszubreiten.
  • Es gibt ein begrenztes Gebiet, in dem Tsunamis entstehen, d. h. einen begrenzten Überwachungsraum für die Suche nach entstehenden Tsunamis. (Suchraum)

Tsunamis breiten sich mit großer Geschwindigkeit ringförmig – aber selten gleichförmig – als Serie aufeinander folgender Meereswellen aus. Diese Wellen zeichnen sich durch sehr große Wellenlängen und relativ geringe Wellenhöhen in tiefen Gewässern aus. Aufgrund der unterschiedlichen Wassertiefen bilden sich Wellenberge, die in flachen Gewässern ihre maximale Höhe erreichen.[2]

Das heißt:

  • Wichtige – messbare – Größen für die Analyse von Tsunamis sind Geschwindigkeit, Wellenlänge und –höhe, Wassertiefe

Wie breiten sich Tsunamis aus?

Tsunamis breiten sich nicht gleichmäßig aus. Wellenlänge, – höhe und Ausbreitungsgeschwindigkeit sind großen Veränderungen ausgesetzt.[3]

Abbildung 2‑1: Verlauf der Ausbreitung eines Tsunamis [4]


Typisch für Wasserwellen sind bei geringer werdender Wassertiefe die kürzer werdenden Wellenlängen und die anwachsenden Wellenberge.

Wie werden Tsunamis erkannt?

Das Entstehen von Tsunamis ist nur begrenzt vorhersehbar. Zwar sind die Hauptursachen bekannt, die Auslöser selbst sind aber oft nicht vorhersehbar. Allerdings werden bekannte Auslöser kontinuierlich überprüft (Seismologische Messungen). Diese Messungen finden nicht flächendeckend statt. Es ist ausreichend, bestimmte Messpunkte kontinuierlich zu überwachen.

  • Wann und wo ein Tsunami entsteht, ist nicht vorhersehbar. Aber die wahrscheinlichen (und bekannten) Auslöser eines Tsunamis können überwacht werden

Die Ausbreitung eines Tsunami kann mit Hilfe von Bojen, die bis zu 6000 Meter tief im Ozean ausgesetzt werden, gemessen werden. Dabei werden Abweichungen vom normalen Gezeitenhub bestimmt und per Satellit an das zuständige Warnzentrum übermittelt.[5]

  • Werden Tsunamis erkannt, kann die Ausbreitung ermittelt und vor den Auswirkungen gewarnt werden.

Wie werden Wellenbewegungen berechnet, welche Theorien kommen zur Anwendung?

Vergleicht man Wellen mit Kurven in der Mathematik, kann die Kurvendiskussion genutzt werden, um z. B. Hoch- und Tiefpunkte oder auch Wendepunkte zu bestimmen.

Abbildung 2-2: Bestimmung von Hoch-, Tief- und Wendepunkt (Kurvendiskussion)

Für die Wellenbewegungen im Wasser müssen zusätzliche Faktoren, wie z. B. Wassertiefe und Windgeschwindigkeit, betrachtet werden.

„Allgemein kann die räumliche und zeitliche Entwicklung des Seeganges auf der Basis der linearen oder der nichtlinearen Wellentheorie untersucht werden […] Grundlage ist dabei die mathematische und physikalische Beschreibung von Schwerewellen. Vertikalverlagerungen der Meeresoberfläche führen zu Oberflächenwellen, die in Form von Gezeiten, Tsunamis (Wellen infolge von Erdbeben), Schwerewellen und Kapillarwellen auftreten können.“[6]

Abbildung 2‑3: Schematische Darstellung und Begriffsdefinition einer Einzelwelle [7]

Die Tsunami-Metapher – Analogien zwischen realen und Internet-Tsunamis

Analog zu den Wasser-Tsunamis haben die Internet-Tsunamis einen Auslöser. Es gibt ein Ereignis in der realen Welt, über das im World Wide Web diskutiert wird und das damit der Ausgangspunkt von Internet-Tsunamis werden kann.Technisch gesehen, kann der Auslöser eines Internet-Tsunamis nicht vorhergesehen werden. Die Ausbreitung von Internet-Tsunamis lässt sich nur im World Wide Web verfolgen. Mediensprünge innerhalb der virtuellen Welt können ggf. erkannt werden, der Übertritt und die Auswirkungen in der realen Welt sind software-technisch nicht analysierbar. (siehe Abbildung 2‑4)Zu klären ist in diesem Zusammenhang auch, wann man von einem Internet-Tsunami überhaupt spricht. Nicht jedes Thema, das im World Wide Web diskutiert wird, „schlägt Wellen“ wie ein Tsunami. Ebenso muss geklärt werden, welche Themen für Politik, Gesellschaft, Demokratie relevant sind und damit auch beobachtet werden sollen.

Abbildung 2‑4: Internet-Tsunamis – Auslöser und Ausbreitungswege

Was bedeutet das für diese Studie?

Für Entscheidungsträger aus Politik und Wirtschaft kann es sehr wichtig sein, rechtzeitig über Internt-Tsunamis informiert zu werden. Analog zur realen Welt können Warnstufen eingeführt werden, die bei Erreichen bestimmter
Schwellwerte [8] erreicht werden.

Abbildung 2‑5: Beispielhafte Darstellung der Ausbreitung von Netz-Tsunamis und deren Warnstufen

Dabei ist zu berücksichtigen, dass es Themen gibt,

  • die mehrfach „Wellen schlagen“ aufgrund immer neuer Ereignisse (z. B. Wulff-Thema [9])
    mit steigender/sinkender Amplitude (blaue, hellgrüne, orange Linien in Abbildung 2‑5),
  • die nur einen „Hype“ haben und durch eine anschließend ständig abflachende Anzahl an interessierten Personen gekennzeichnet sind (hellblaue Linie in Abbildung 2‑5)
  • die nicht die für eine Warnung erforderliche Menge von Internet-Nutzern, die das Thema kommentieren, bewerten, diskutieren etc., erreichen (dunkelgrüne Linie in Abbildung 2‑5)

und das die Ausbreitung der Diskussion – ähnlich wie bei Wasser-Tsunamis – nicht gleichmäßig erfolgt.

Notwendige technische Betrachtungen und Analysen

  • Der Suchraum

Kern aller Betrachtungsweisen ist die Konzentration auf die virtuelle Welt (Internet/Web). Jede quantitative und qualitative Aussage muss an den Raum, auf den diese zutrifft, gemessen werden.

In Analogie ist der gesamte Suchraum das, was im Web erreichbar und verwertbar ist (hier im Sinne der technischen Auswert-/Verwertbarkeit). Dieser Bereich wird auch von den gängigen Suchmaschinen, wie Google, Bing, Yahoo, erreicht und suchbar gehalten (Index).

Dabei sind die Bereiche Internet und Web zu unterscheiden. Das Internet ist eine Obermenge des Webs und enthält wesentlich mehr Dienste und Anwendungen. Das Web ist eine Untermenge des Internets in dem in Hypertexten eine Daten- und Wissensrepräsentation erfolgt.

  • Die Ausbreitung

Die Ausbreitung der Themen erfolgt durch den Menschen – vorzugsweise über Social-Media-Plattformen, d. h. durch Internet-Nutzer. Diese müssen quantifiziert werden. Das heißt, ich muss die Internet-Nutzer identifizieren für verlässliche Aussagen über die Ausbreitungsgeschwindigkeit. Im Gegensatz dazu kann man sich aber durchaus auch anonym im World Wide Web bewegen.

  • Die kritische Masse für Warnstufen

Wann ist eine kritische Masse für Warnstufen erreicht? Es gibt aktuell keine Statistiken, die diese Menge beziffern können. Das heißt auch, es gibt aktuell kein Software-Tool, das die notwendigen Inforationen sammeln und bereitstellen kann.

  • Das Erkennen relevanter Themen

Für das Suchen von Informationen zu bestimmten Themen gibt es eine Vielzahl von Suchmaschinen.

Aber wie können für Politik, Gesellschaft, Demokratie relevante Themen möglichst sicher erkannt werden? Suchmaschinen bieten dafür keine Lösung.

Zusammenfassung

Es gibt Analogien zwischen „realen“ Tsunamis und Internet-Tsunamis. Grundsätzlich gilt für beiden Arten:

  • Der Impuls, der einen Tsunami auslöst, ist aktuell nicht vorhersehbar.
  • Der Raum, in dem häufig diese initialen Impulse ausgelöst werden, ist (mit hoher Wahrscheinlichkeit) lokal eingrenzbar.
  • Die wellenförmige Ausbreitung eines Tsunamis ist mess- und beobachtbar.
  • Vor Solitonen-Effekte kann innerhalb einer stark begrenzten Vorlaufzeit gewarnt werden.[10]

Die Bildung von Metriken zur Vorhersage, Erkennung, Analyse von Internet-Tsunamis ist die Grundvoraussetzung für die Entwicklung von Analyse- und Vorhersagetools.

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[1] vergl. Bormann, Peter 2008: Merkblatt Tsunami: Ursachen und typische Phänomene von Tsunamis und Verhaltensweisen bei akuter Tsunamigefahr oder –warnung. Potsdam: GFZ Helmholtz-Zentrum: S. 1

[2] ebd.

[3] vergl. Goseberg, Nils 2011: Tsunami-Forschung und Risikomanagement. (14.03.2012)

[4] ebd.

[5] vergl. heise online (Roth, Wolf-Dieter) 01.11.2005: Erkennen, Aufzeichnen und Übertragen unterseeischer Bojensignale. (14.03.2012)

[6] Mai, S.; Paesler, C. und Zimmermann, C. 2004: Wellen und Seegang an Küsten und Küstenbauwerken mit Seegangsatlas der Deutschen Nordseeküste. Hannover: Universität Hannover. Franzius-Institut für Wasserbau und Küsteningenieurwesen: S. 1 – 7

[7] ebd.: S. 1 – 8

[8] Ein Schwellwert ist z. B. eine bestimmte Anzahl von Internetnutzern, die an der Diskussion eines Themas teilnimmt, die Ausbreitung über mehrere Social-Media-Plattformen oder der Mediensprung eines Themas.

[9] 2011 gab der Bundespräsident Christian Wulff nach nur 579 Tagen Amtszeit seinen Rücktritt bekannt als Konsequenz seines fragwürdigen Verhaltens, das im Internet und in den Medien heftig diskutiert wurde. Ähnlich einem Tsunami bauten sich aufgrund verschiedener Ereignisse die Anti-Wulff-Meinungswellen immer höher auf. Diese Ereignisse waren insbesondere das Bekanntwerden vom umstrittenen Privat-Darlehen für den Hausbau, der Urlaub mit reichen Freunden, die Drohungen gegen Journalisten der Bild-Zeitung, die Geldherkunft für Bücher und Sponsorenwerbung.

[10] Solitone, eine vereinzelte und sehr große Welle mit zerstörerischer Kraft aufs Land.